17. Dezember 2010

Die Lücke bleibt

Von nst_xy

Vor zwei Jahren starb der Mann von Gretel Widmaier. Der Tod des 85-Jährigen kam nicht überraschend. Die Familie konnte ihn auf seinem letzten Weg begleiten. Die tiefe Liebe zueinander und der Glaube an ein Leben nach dem Tod verbindet die Familie weiterhin. Und doch hat sich für die Witwe eine schmerzhafte Lücke aufgetan, die sich nicht wieder schließt. Vielleicht muss es so sein.

Über die Zeit „danach” soll das Gespräch eigentlich gehen, die über zwei Jahre, in denen Gretel Widmaier jetzt Witwe ist, die Lücke, die sich in ihrem Leben aufgetan hat.

Doch so einfach ist das nicht. Diese Lücke kann man eben nur verstehen, wenn man die Zeit „davor” kennt, wenn man die Fülle versteht, in die hinein die Lücke gerissen wurde. Und so dreht sich das Gespräch zunächst einmal lange um die letzte Lebensphase von Werner Widmaier, um die Zeit im Oktober 2008, als der ehemalige Chefarzt spürte, dass sein Aneurysma, die krankhafte Erweiterung der Hauptschlagader, langsam zu reißen begann, und er damit auf seiner letzten Wegstrecke angekommen war.

Gretel Widmaier erzählt von den letzten Wochen einer Beziehung, die 53 Jahre gedauert hatte und die von einer tiefen, nie ernsthaft angefochtenen Liebe geprägt war, von einem immer stärkeren Einvernehmen.

Und Gretel Widmaier beschreibt die letzten Tage mit ihrem Mann im Hospiz: Momente zu zweit und mit den vier Kindern; Momente voller Humor, voller Klarheit; Momente der Vorbereitung auf das Sterben.

Und dann ging er, – und sie blieb zurück.

„Es war einschneidender als ich dachte”, sagt die heute 75-Jährige, nachdem sie sich wieder gefasst hat. „Ich war wie im Ausnahmezustand. Mir war, als müsste ich mein Leben neu lernen.” Sie lebte – wie zuvor mit Werner – in ihrem Haus in Leonberg bei Stuttgart. Der Ort war derselbe, aber es war ihr, als habe sich um sie herum die Landschaft verändert. Wochenlang wachte sie morgens weinend auf, versuchte den Menschen aus dem Weg zu gehen, möglichst in der Mittagszeit einzukaufen, wo niemand aus ihrem Bekanntenkreis einkaufen ging. Wie sollte ich auf sicher gut gemeinte Anteilnahme reagieren?, fragte sie sich.

Dabei war Gretel Widmaier keineswegs allein. Nebenan wohnt einer der Söhne mit Familie, und auch die anderen Kinder haben sich rührend um sie gesorgt. Und doch kam in ihr oft die Frage hoch: „Warum hat Werner mich nach so vielen Jahren gemeinsamer Ehe nicht mitgenommen? Wozu bin ich überhaupt noch da?”

Irgendwann, so dachte Gretel Widmaier, wird sich diese „veränderte Landschaft” schon wieder zurückverändern. Aber das tat sie nicht! „Habe ich Werner wirklich losgelassen”, fragte sie sich. Doch diese Frage konnte sie mit gutem Gewissen bejahen. Das war es nicht, was ihr zu schaffen machte. Es war vielmehr das Gefühl, dass Werner wirklich „entschwunden” war – absolut eindeutig, unabänderlich und endgültig.

Werner selbst hatte kurz vor seinem Sterben wie in einem Vermächtnis seines Glaubens beteuert: „Sag auch den Kindern: Alles, was sich zwischen Himmel und Erde abspielt, ist reale Wirklichkeit, aber es bleibt doch Geheimnis.” Dennoch war in Gretel das Empfinden mächtig: Werner ist weg.

„Wir sind einen langen und sehr intensiven Weg miteinander gegangen, und die letzten Jahre waren von einer Einheit unter uns geprägt, die fast schon nicht mehr diesseitig war”, sucht Gretel Widmaier zu beschreiben.

Nach Wochen der absoluten Funkstille und Beziehungslosigkeit zu Werner hin, begann eine Phase intensiver Träume, die Gretel Wid- maier, manchmal mitten in der Nacht, aufschrieb. In einem dieser Träume – davon ist sie überzeugt – zeigte ihr Werner selbst, wie sie mit ihm in Verbindung bleiben konnte. „Du weißt doch, wo wir uns wieder treffen”, sagte er ihr, als sich in einer fremden Stadt ihre Weg trennten. Und auf Gretels mehrfache Bemerkung, dass sie das nicht wisse, sagte er: „In der Eucharistie!”

Gretel Widmaier hatte in den Monaten nach dem Tod ihres Mannes in gewohnter Regelmäßigkeit Gottesdienste besucht. Doch auch über diese „geistliche Schiene” war keine „Verbindung” zu ihm spürbar gewesen. Nach diesem Traum stellte sich die Beziehung zu Werner überraschend wieder ein, gleich in der nächsten Messe.

Damit war die Distanz zu ihrem Mann jedoch nicht einfach überwunden. „Werner ist und bleibt auf einer anderen Ebene”, sagt sie. Um das zu erläutern, versucht Gretel Widmaier zu beschreiben, welche Rolle Gott in ihrer Beziehung gespielt hat:

„Gott gehörte bei uns immer dazu”, sagt sie, „nicht nur als der Alles- Umfangende, sondern als der Einende unseres gemeinsamen Lebens.” Dieses „Dreieck” – so empfindet sie es – hat sich jetzt verschoben: Jetzt sind zwei aus diesem Dreierbund in der noch unsichtbaren Wirklichkeit, „und ich bin eben allein!”

Es gibt Menschen, die mit ihrem verstorbenen Partner weiterhin alles besprechen und gewissermaßen gemeinsam entscheiden. Gretel Widmaier kann das nicht. „Ich kann Werner nicht jeden dummen Kram erzählen, mit dem ich hier zu tun habe. Er ist in einer anderen Welt, und ihn interessieren jetzt andere Dinge. Und so wäge ich aus Liebe ganz genau ab, was ich ihm erzähle.”

Die Eucharistie ist wirklich zum Treffpunkt mit Werner geworden. Aber zuhause, im Alltag, fehlt Werner. Die Lücke bleibt!

Hätte sie sich auf diesen Einbruch besser vorbereiten können? Gretel Widmaier schüttelt entschieden den Kopf. „Man kann nachdenken über das Leben nach dem Verlust des Partners, trainieren kann man es nicht.” Und bei allem Glauben: Nicht einmal Gott kann diese Lücke, diesen Leerraum schließen. „Gott ist mir nicht Ersatz für den Werner”, meint sie entschieden. „Gott ist Gott! Und er bleibt immer der ganz Andere.”

Vielleicht, das beginnt die Witwe langsam zu erkennen, ist der Leerraum auch so etwas wie eine neue Berufung: „Ich muss diese Lücke leben, ich will sie auch leben.”

Das bedeutet für Gretel Widmaier nicht, dass sie in hektische Aktivität verfällt, um die Leere zu füllen und der Stille zu entfliehen. Aber der Raum, der sich schmerzlich in ihr aufgetan hat und sich nie wieder schließen wird, steht anderen offen: den Kindern und Enkeln; den Leuten aus der Pfarrei und dem „Wort des Lebens-Kreis”, den sie seit vielen Jahren gemeinsam mit Werner betreut hat; den Freunden, die ihr Werner vor seinem Tod besonders ans Herz gelegt hat; und vielen, die gerne bei ihr das Herz ausschütten.

Ein Rezept, wie man mit Trauernden umgehen sollte, hat Gretel Widmaier nicht. „Wer mich gut kannte, war da und war einfach still. Mehr habe ich nicht gebraucht. Aber ich kenne auch Menschen, die einen Partner verloren haben, die sich im Erzählen alles von der Seele reden müssen, was sie in vorausgehenden Jahren nicht erzählen konnten. Da ist jeder anders.”

In der ersten Trauerphase hatte Gretel Widmaier das Gefühl zu fallen, ohne Netz und Boden, als müsse sie ohne Fundament laufen, wie auf Wasser, ohne zu wissen, wann das aufhört.

Überrascht ist Gretel Widmaier auch davon, welche Bedeutung das Grab von Werner für sie bekommen hat. „Ich habe früher immer fest behauptet, dass ich nie ein Grab brauchen werde, um mit Werner Verbindung zu haben. Mit Verwunderung habe ich wahrgenommen, wie viele Leute auf Friedhöfe gehen. Es kam mir vor wie ein eher magischer Kult. Aber jetzt entdecke ich, wie wichtig dieser Platz ist: der Ort des sichtbaren, endgültigen Abschiednehmens.”

Es klingelt an der Tür. Die Schwiegertochter bringt die beiden Enkel vorbei, auf die Gretel Widmaier die nächsten Stunden aufpassen wird. Auch sie werden die Lücke nicht füllen. Aber ganz offenkundig fühlen sie sich sehr, sehr wohl bei der Oma.

Joachim Schwind

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Dezember 2010)
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