17. Dezember 2010

Weihnachten? Wie schrecklich!

Von nst_xy

Das Entsetzen auf den Gesichtern der alten Männer ist eindrucksvoll und nachhaltig: Es ist Weihnachten! Süßer die Glocken nie klingen als in der stillen Nacht, als in der seligen Weihnachtszeit, – und die alten Männer sind erschrocken! Leonardo da Vincis nicht vollendetes Werk (S. 12 der gedruckten Neuen Stadt) zeigt ein ungewöhnliches Weihnachtsgeschehen: Es stehen nicht die Armen und Benachteiligten um die Krippe und stellen so die sozialen Verhältnisse in Frage. Nein, die Etablierten sind da, die Wohlhabenden, Mächtigen, Intelligenten. Und sie sind überrascht, erschrocken, entsetzt.
Leonardo bringt Weihnachten auf die Leinwand als einen Einbruch in die Zeit. Eine Welt gerät aus den Fugen, eine schöne Ordnung löst sich auf und bricht zusammen. Hinterher ist nichts mehr so, wie es einmal war. Gott kommt, und alles wird anders. Schrecklich!
Lässt sich dieser Gedanke auch umdrehen: Schreckliches geschieht; alles verändert sich; kann es sein, dass Gott kommt? Diese Frage – so denke ich – gehört zu denen, die man nur sich selbst stellen darf. Denn wenn wir diesen Gedankengang anderen aufdrängen, laufen wir Gefahr, Unglück, Schrecken und menschliches Versagen am Ende einfach Gott in die Schuhe zu schieben.
Und doch ist etwas Wahres an diesem Gedanken: Wenn Gott sich uns nähert – und der christliche Glaube geht davon aus, dass er das tut -, dann wird in uns immer wieder Altes, Wohlgeordnetes sich auflösen und zusammenbrechen, um Neuem, Unerwartetem Platz zu machen. Wenn Gott kommt, dann ist er immer anders, als wir ihn zu kennen glauben. Die Überraschung ist vorprogrammiert, und sie wird umso größer, je mehr wir an dem festhalten wollen, was wir von ihm zu wissen glauben.
Diese Überraschung finde ich auf den Gesichtern der Erwachsenen, denen Kinder ein selbst gefertigtes Jesus-Kind schenken, um sie daran zu erinnern, dass es an Weihnachten um diesen Jesus geht. So klein, niedlich und lieblich er auch abgebildet sein mag: Das Figürchen reicht offenbar schon, um in so manche moderne, glitzernde Weihnachtswelt einzubrechen, und sie ins Wanken zu bringen.
Einen Einbruch ganz anderer Art hat Gretel Widmaier erlebt, als 2008 nach 53 gemeinsamen Jahren ihr Mann Werner starb. So sehr sie diesen Moment kommen sah und sich sogar gemeinsam mit ihrem Mann darauf vorbereitete, so wenig war sie auf das eingestellt, was danach kam: eine große, abgrundtiefe Lücke, die sich nicht mehr schließt. Ob sie darin ein Kommen Gottes sehen kann, überlassen wir ihr selbst. In jedem Fall will sie „diese Lücke leben” – auch aus ihrer Beziehung zu Gott. Und ganz offenbar fühlen sich in dem Raum, der sich dadurch auftut, andere bei ihr angenommen und aufgehoben.
Wo Gott in diese Welt und in unser Leben einbricht, können Glocken klingen, Engel singen und Friedensbotschaften verkündet werden. Aber das Kommen Gottes kann auch Überraschungen mit sich bringen. Vielleicht tut ein bisschen Erschrecken unserer lieblichen Weihnachtskultur gut.
Ich möchte mich in diesem Jahr ab sofort darauf einstellen. Machen Sie mit?
Ihr
Joachim Schwind

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Dezember 2010)
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