13. Januar 2011

Lektion von Lena

Von nst_xy

Langsam – so scheint mir – werden Lena und ich Freunde. Das ist keineswegs selbstverständlich; denn Lena ist mit ihren gerade einmal zwei Lebensjahren ein ausgesprochen selbstbewusstes Persönchen. Als wir uns vor einigen Wochen zum ersten Mal so richtig begegneten, war sie mit ihrer Mutter im Park unterwegs. Der Fußball, den sie gerade energisch losgekickt hatte, rollte auf mich zu. Ich brachte ihn höflich zu ihr zurück, legte ihn ihr – sozusagen abstoßfertig – vor die Füße und sagte mit netter, kindgerechter Stimme: „Und jetzt mach Kick!” Lena schaute mich leicht schelmisch lächelnd an und antwortete mit einem entwaffnenden Charme: „Nein!”

Ich glaube, ich habe die Lektion, die mir Lena im Park erteilt hat, gelernt – und ich bin ihr dafür sehr dankbar. Seitdem behandle ich Lena mit Respekt, auf Augenhöhe – wie man so schön sagt. Klar: Sie ist ein Kind, und meine Begegnungen mit ihr haben einen anderen Charakter als die mit Erwachsenen. Aber mit ihrem „Nein” hat Lena eine echte Partnerschaft eingefordert, eine Beziehung unter Gleichen.
Dazu gehört, dass sie meine ungeteilte Aufmerksamkeit verdient. Es geht nicht, dass ich sie nur als Beiwerk behandle und mich ausschließlich ihrer Mutter oder ihrer Oma zuwende, mit denen sie regelmäßig im Park auftaucht. Es muss – das habe ich mir fest vorgenommen – von meiner Seite immer die Bereitschaft zu einer ganz persönlichen Begegnung zwischen Lena und mir geben, auch wenn das vielleicht nur ein kurzer Augenblick ist.

Auf diese Bereitschaft geht Lena nicht immer ein. Zu einer echten Begegnung auf Augenhöhe gehört auch, dass sich Lena meiner Zuwendung entziehen oder ganz verweigern kann. Ihr erstes „Nein”, mit dem unsere „Freundschaft” begann, ist inzwischen längst nicht das letzte geblieben. Beziehung kann immer nur ein Angebot sein, das der andere im Rahmen seiner Freiheit ganz, teilweise oder gar nicht annehmen kann.

Und Lena hat ihre eigenen Zeiten und Geschwindigkeiten. Mit dem Versuch, sie – als neue Grußvariante zwischen uns – zu einem schnellen, wechselseitigen Abklatschen der Hände zu animieren, bin ich kürzlich schwer gescheitert. Die Einladung kam für Lena zu plötzlich und zu heftig; fast hätte sie zu weinen begonnen, wohl weil sie mit der Geste etwas Gewalttätiges verband. Eine Beziehung auf Augenhöhe verlangt auch die Fähigkeit, sich auf die Wellenlänge des anderen einzuschwingen.
Respekt, ungeteilte Aufmerksamkeit, das rechte Verhältnis von Nähe und Distanz, die Bereitschaft, sich auf das Tempo des anderen einzulassen: Diese Ausgabe der NEUEN STADT ist voll von Beispielen solcher Beziehungen:

„Ich kenne diese Menschen”, sagt beispielsweise Bischof Cesare Mazzolari über die Südsudanesen, die vor einem wichtigen Referendum stehen. „Immer wenn ich meinte, dass sie etwas nie hinkriegen, haben sie mich eines Besseren belehrt.”

Weil er Gespräche „auf Augenhöhe” führen will, gibt der pensionierte Unternehmer Walter Schmidt den Strafgefangenen, die er ehrenamtlich betreut, immer seine Visitenkarte mit allen persönlichen Daten darauf.

Und die Mitglieder eines neuen Senioren-Wohnprojekts in Augsburg bemühen sich um eine Hausgemeinschaft, in der jeder seine Privatsphäre hat und zugleich alle füreinander nach Kräften solidarisch einstehen.

Beziehungen auf Augenhöhe kann man lernen. Immer wieder neu. Mir bringt es Lena gerade bei.
Ihr
Joachim Schwind

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2011)
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