30. Januar 2013

Glück ist kein Ersatz für Sinn

Von nst1

Zum neuen Jahr wünscht man sich viel Glück. Aber, so der Glücksforscher Wilhelm Schmid, das ständige Streben nach Glück ist für unsere Gesellschaft ein Problem geworden. Für viel wichtiger hält er es, einen Sinn im Leben zu finden.

Herr Schmid, ist der Jahreswechsel für einen Glücksforscher etwas Besonderes, schließlich wünscht man sich nie so viel Glück wie jetzt?

Schmid: Und das ist auch ganz in Ordnung. Menschen brauchen sehr viel Glück fürs Leben. Aber wenn man sich bewusst macht, welchen Stellenwert das  Glück in den vergangenen Jahren bekommen hat, scheint es mir sinnvoll, sich ein wenig genauer damit zu befassen. Die verbreitete Art der Glücksthematisierung hat doch bei vielen Menschen eine verheerende Folge: zu glauben, ein Leben ohne Glück lohne sich gar nicht mehr.

Wie definieren Sie denn Glück?

Schmid: Ich habe keine Definition. Ich beobachte nur, dass früher Glück mit Zufall zu tun hatte. Davon ist heute kaum noch die Rede, obwohl das Zufallsglück wesentliche Teile unseres Lebens bestimmt. Wenn Menschen sich erinnern, wie ihr Lebensweg zustande kam, stellen sie fest, dass nicht alles nach Plan lief, sondern dass sehr viel Zufall im Spiel war. „Etwas fällt mir zu“ meint ja: Ich habe das nicht gemacht, ich konnte das nicht bestimmen, und woher es mir zufällt, weiß ich nicht. Dieses Glück können wir nicht machen, aber wir müssen auch nicht die Hände in den Schoß legen.

Sondern?

Schmid: Wir können die Tür dafür aufmachen. Ein ganz banales Beispiel: Wenn jemand davon träumt, im Lotto zu gewinnen, ist es eine gute Idee, auch einen Tippschein auszufüllen. Wenn er nicht spielt, aber trotzdem gewinnen will, bleibt die Tür verschlossen. Einer, der darauf hofft, jemandem zu begegnen, tut gut daran, nicht auf dem Sofa sitzen zu bleiben.

Man muss also sein Glück in die Hand nehmen?

Schmid: Ich kann es nur insofern in die Hand nehmen, als ich eine Situation schaffe, in der etwas eintreten kann. Das gilt natürlich nur, wenn ich dafür bereit bin. Denn der Zufall muss ja nicht zwangsläufig positiv sein. Ich kann auch jemandem begegnen, der mir nicht gefällt. Von diesem Zufallsglück ist kaum noch die Rede.

Was meint man dann, wenn man heute von Glück spricht?

Schmid: Menschen verbinden damit, dass sie Erfolg haben; gesund sind oder bleiben; Freude haben; zufrieden sind und Spaß haben.

Dagegen ist ja nichts einzuwenden.

Schmid: Nein, nicht im Geringsten. Menschen sollen und müssen sich wohlfühlen können. Und für ihr „Wohlfühlglück“ können sie sehr viel tun, wenn sie wissen, was ihnen gut tut. Mir etwa tut eine Tasse Espresso am Morgen gut und es ist nicht schwer, dieses Glück zu beschaffen.

Aber: Dieses Glück ist nicht von Dauer! Die meisten Glücksratgeber machen Menschen jedoch glauben, dass sie Glück auf Dauer haben können. Wenn die Menschen dann bemerken, dass das nicht geht, sind sie unglücklicher als zuvor. Und das ist das Gefährliche dieses Glücks: zu viel davon zu erwarten, macht Menschen unglücklich! Man kann fast die Formel aufstellen: Je heftiger Menschen nach diesem Glück streben, desto unglücklicher werden sie.

Wie konnte es dazu kommen?

Schmid: Menschen lebten früher in großen Zwängen und hatten keine Möglichkeit, ihrer Pflicht zu entfliehen. Da war Glück die zeitweilige Erholung von der Pflicht. Aber nun ist ein neues Spiel entstanden: Das Glück selbst wird zur Pflicht. Wenn es Ihnen schlecht geht, rät man Ihnen, etwas zu tun, damit es Ihnen wieder besser geht. Man scheint um Ihr Wohl besorgt, denkt aber in Klammern: Das tut auch mir gut, denn ich will mich nicht runterziehen lassen von dem, der zur Belastung wird, wenn er nicht glücklich ist.

Glück wird zur Pflicht, fast zum Stressfaktor. Kann man sich dem entziehen?

Schmid: Ganz einfach, indem man sich bewusst macht: Alles hat seine Zeit, auch das Glück! Ich bemühe mich zwar darum, eine glückliche Zeit zu haben, bin aber auch darauf eingestellt, dass diese vorübergeht; dass nach einer glücklichen Zeit in einer Beziehung etwa auch wieder eine schwierigere Zeit kommt, ohne dass das die Beziehung komplett in Frage stellt.
Ich möchte Menschen ermutigen, die Phänomene ihres Lebens wahrzunehmen. Wenn jemand ein sehr zufriedenes Leben will, dann wird die leiseste Störung dieser Zufriedenheit furchtbare Auswirkungen haben. Wenn umgekehrt jemand einplant, dass dies ab und zu auch anders sein kann, stellt eine Störung nicht gleich alles in Frage. Nur ich selbst kann meine Erwartungen so oder so justieren. Was spricht denn dafür, seine Erwartungen maximal groß zu machen und dann bitterlich enttäuscht zu sein, wenn sie nicht eintreffen?

Wir sollten uns also nicht zu viel vornehmen fürs neue Jahr?

Schmid: Wir wissen aus Erfahrung, was mit den Vorsätzen wird. Ich nehme mir daher gar nichts mehr vor, sondern gehe mit einem gewissen Respekt ins neue Jahr, weil ich weiß, was passieren kann. Und wenn das Jahr zu Ende geht und es ist nichts Schlimmes eingetroffen, finde ich das großartig. Wenn aber etwas passiert ist, war ich darauf vorbereitet.
Vieles bei der Suche nach Glück verbindet sich heute mit dem Slogan vom „positiven Denken“, der Erwartung also, dass Dinge immer positiv laufen müssten. Das ist die sicherste Methode, unglücklich zu werden. Denn alle Erfahrung sagt uns, dass die Dinge nicht nur positiv laufen. Wenn ich darauf vorbereitet bin, dass es auch negativ laufen kann, dann fällt mir im entscheidenden Moment auch ein, wie ich reagieren könnte. Wenn nicht, werde ich so überrascht sein, dass nichts mehr geht.

Das klingt nach gesundem Menschenverstand.

Schmid: Absolut! Das sind Binsenweisheiten. Alle Menschen wissen, es gibt Licht und es gibt Schatten. Aber viele Menschen wollen nur das Licht, nur den Erfolg, immer alles positiv. Da ist etwas aus dem Ruder gelaufen.
Als Vater von vier Kindern plagt mich die Tatsache, dass viele Eltern diese Zusammenhänge nicht mehr wahrhaben wollen. Deshalb wachsen ihre Kinder auf und gehen davon aus, dass sie in ihrem Leben nur erfolgreich sein werden und dass es nur ums Glück geht. Wenn sie dann in ihren Augen alles richtig machen und doch das Falsche dabei herauskommt, verstehen sie die Welt nicht mehr. Wir sollten nicht die Ideologie über die Erfahrung stellen.

Ein Stichwort noch: Hat Glück mit Lust zu tun?

Schmid: Nichts gegen Lust. Aber das Leben ständig nur von der eigenen Lust abhängig zu machen, ist ein Irrweg. Stellen Sie sich vor, ein Kind kommt auf die Welt und Sie füttern es nur, wenn Sie Lust haben. Sie bringen es auch nur in den Kindergarten, wenn sie Lust haben. Das Kind folgt ihnen nur, wenn es Lust hat.
Wie gesagt, nichts gegen Lust, aber auch sie hat ihre Zeit. Und es gibt Zeiten, in denen wir uns auch von mitmenschlichen Überlegungen und Pflichten, die wir übernommen haben, leiten lassen müssen. Immer nur der Lust zu folgen, ist dumm und führt zu Ärger und Zwiespalt.

Man sagt, dass Jugendliche sich wieder öfter ehrenamtlich engagieren. Haben die etwas davon wahrgenommen?

Schmid: Das kann ich mir gut vorstellen. Unsere 20-jährige Tochter haben wir auf die Idee gebracht ,einen sozialen Dienst in einem Pflegeheim mit besonders schweren Fällen zu machen. Nach den ersten schwierigen Wochen, in denen sie manchmal aufgeben wollte, bemerkte sie, dass es sehr interessant ist und sie diesen Menschen wenigstens für eine Stunde eine Auszeit verschaffen kann. So entsteht etwas, was ich für wichtiger halte als Glück, nämlich Sinn.

Sinn ist wichtiger als Glück?

Schmid: Ja; denn Menschen, die einen Sinn haben, müssen nicht nach Glück fragen. In einer Beziehung kommt es vor, dass man gerade mal nicht sehr glücklich ist. Entweder läuft man weg oder man sieht trotzdem einen Sinn; dann übersteht man auch sehr schwierige Zeiten. Es ist eine der großen Schwächen unserer Zeit, dass sie immer weniger Sinn kennt. Deswegen fragt sie nach Glück. Aber Glück ist kein Ersatz für Sinn.

Und wie findet man Sinn?

Schmid: Das zeigt uns die Erfahrung: Gerade frisch verliebt, fragt man nicht nach Sinn, weil man ihn hat – in der Beziehung zum anderen. Und wenn eine Beziehung zerbrochen ist, sieht man oft keinerlei Sinn mehr. Das gilt für Beziehungen jeder Art. Nun ist unsere Zeit – neben allem Positiven, das sie uns gebracht hat – aber nicht sehr hilfreich, Beziehungen aufrecht zu erhalten, sondern eher sie zu zerbrechen. Weil Menschen mobil sein müssen, weil sie scheinbar unendliche Wahlfreiheit haben.

Wir müssen also lernen, Beziehungen zu leben?

Schmid: Dort, wo das möglich ist. Aber wir wissen ja auch, wie schlimm Beziehungen werden können. Und es ist eine positive moderne Errungenschaft, Beziehungen auch kündigen zu können. Aber was wir ändern könnten und was wir individuell, jeder für sich, lernen müssten: Dass wir Beziehungen nicht bei jeder beliebigen Gelegenheit aufkündigen!

Ein guter Neujahrswunsch wäre demnach: ein beziehungsreiches Leben!

Schmid: Ja; unbedingt. (lacht) Das scheint mir sinnvoll!

Ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch.
Gabi Ballweg

Wilhelm Schmid,
Jahrgang 1953, Philosoph und Glücksforscher, lebt in Berlin und lehrt an der Universität Erfurt. Sein Schwerpunkt ist die Philosophie für Lebenskunst. Er ist Autor zahlreicher Bücher („Unglücklich sein – Eine Ermutigung“; „Glück – warum es nicht das Wichtigste im Leben ist“) und erhielt 2012 den Philosophiepreis für besondere Verdienste bei der Vermittlung von Philosophie.
www.lebenskunstphilosophie.de

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2013)
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