15. Januar 2013

Leben ist immer Geschenk!

Von nst1

Wann ist Leben lebenswert und was ist zumutbar? Bei allen Diskussionen um Euthanasie und vorgeburtliche Diagnostik stehen diese Fragen im Mittelpunkt. Wir sprechen darüber mit Giovanni Maio, Professor für Medizinethik.

Bei den Diskussionen, was am Lebensende erlaubt sein soll, stehen Mündigkeit und Autonomie im Mittelpunkt.
MAIO: Bisher wurde sehr einseitig diskutiert. Es gilt das Credo, dass wir das ganze Leben im Griff haben müssen. Aber im Sterben geraten wir unweigerlich an einen Punkt, an dem wir uns anderen überlassen müssen. In unserer Zeit der Patientenverfügungen und der Autonomiedebatten haben Menschen  verlernt, dass ein gutes Sterben nur möglich ist, wenn sie es in einer Atmosphäre der Zuversicht gestalten können und auf Menschen stoßen, die sich mit Hingabe der Sorge widmen; denen es darum geht, im mitmenschlichen Begleiten Trost zu spenden. Wir müssen weg von diesem Machbarkeitsdenken, hin zu einer neuen Gelassenheit und einer neuen Sorgekultur.

Und wie könnte das geschehen?
MAIO: Wir brauchen eine neue Kultur des Sterbens, eine Kultur, bei der wir nicht nur nach Patientenverfügungen fragen. Menschen, die am Ende ihres Lebens in Not sind, brauchen nicht einfach die Erfüllung von Formularen und Vorgaben. Natürlich müssen wir diese respektieren. Aber damit ist der humane Dienst an diesen Menschen nicht vollendet. Sie brauchen ein Gegenüber, das ihnen zum Ausdruck bringt, dass sie wertvolle Menschen sind, auch wenn sie schwerst pflegebedürftig sind. Diese neue Sorgekultur kann nur durch eine tiefe Form der Zuwendung, Wertschätzung und Menschenliebe gestaltet werden.

Menschen in Pflegeberufen berichten von enormem Zeitdruck. Steht das dieser Sorgekultur nicht völlig entgegen?
MAIO: Auf jeden Fall. Die Sorgekultur droht zu verkümmern, weil Menschen, die guten Willens sind, sich für andere hinzugeben, bestraft werden, wenn sie sich mehr Zeit nehmen für Gespräche und Zuwendung.

Wir haben eine vollkommene Ökonomisierung, auch der sozialen Bereiche. Sie werden des sozialen Charakters quasi entkleidet und sollen nur noch gut funktionierende, auf Effizienz ausgerichtete Apparate werden. Die Pflege ist das erste Opfer: eine Stoppuhrpflege, bei der alte und kranke Menschen zu Objekten degradiert werden. Aber es geht um Menschen in Notlagen und Krisensituationen, die hilfsbedürftig sind. Man kann ihnen nicht gerecht werden, wenn man nur auf Effizienz setzt. Wir brauchen natürlich die Funktionalität, und wir dürfen auch keine Ressourcen verschwenden. Aber nur, wenn wir Begegnungen und Gespräche ermöglichen und damit das Gefühl wächst, dass man verstanden und wertgeschätzt ist, entsteht auch eine neue Kraft, eine heilende Kraft sogar, und neuer Lebenswille. Aber auf diese zwischenmenschliche Beziehung, auf die Fürsorge wird heute kaum mehr geachtet; es werden nur noch objektive Ergebnisse dokumentiert. Auf Dauer richtet sich das aber gegen das Wohl und die Bedürfnisse der Patienten selbst.

Oft scheint es, dass rechtliche Fragen immer wichtiger werden und enormen Druck erzeugen.
MAIO: Grundsätzlich hat die Medizin die Aufgabe, sich um das Wohlergehen der Menschen zu kümmern. Worin dieses Wohlergehen bestehen kann, ist eine sehr komplexe Frage. Die moderne Medizin meint, es bestehe darin, für die Funktionalität der Organe zu sorgen. Und dort, wo die Technik den Menschen mehr Lebensjahre geben, Krankheit heilen oder Schmerzen lindern kann, muss sie unbedingt eingesetzt werden.
Aber die moderne Medizin schielt zu sehr darauf, wie sie dem Menschen die Hoffnung geben kann, dass er noch länger lebt. Ich denke, dass die Medizin die Aufgabe hat, sich in einem ganzheitlichen Sinn um Menschen zu kümmern. Wenn die technische Apparatur nichts mehr ausrichten kann, ist der Arzt erst recht gefragt. Er muss den Menschen helfen, Frieden mit dem eigenen Leben zu finden, ja zu ihrem Leben zu sagen, um es abzurunden und nicht einfach abzubrechen.

Sterben ist deshalb schwer, weil alles unwiederbringlich ist und man oft schmerzhaft erkennt, was man falsch oder nicht gemacht hat. In dieser Not muss die Medizin helfen, eine neue lebensbejahende Grundhaltung zu wecken, indem sie verdeutlicht, dass die verbleibende Zeit eine gute werden kann, sofern man zur Annahme des eigenen Lebens bereit ist. Dann wird man auch sehr viel leichter bereit sein, von der Obsession des technisch Machbaren abzulassen.
Ein Haus, das sich der Medizin und der Pflege verschrieben hat, muss natürlich gut funktionieren. Man braucht Managementstrukturen und in Maßen auch ein Qualitätsmanagement. Aber darüber hinaus muss dort ein Geist wehen, der sich durch alle Strukturen durchzieht. Alle sollen wissen: Hier ist ein Ort, an dem es um das Dasein für andere geht. Das wird sich dem Patienten sofort vermitteln, wenn er durch die Pforte kommt, in jeder Begegnung.

Wird an einem solchen Ort Euthanasie dann gar kein Thema sein?
MAIO: Es ist in jedem Fall ausgeschlossen, dass man an solchen Orten – und überhaupt – ein Plädoyer für den Tod hält. Wenn Menschen krank werden, sind sie aus der Bahn geworfen. Da dürfen sie nicht auf eine Medizin stoßen, die ihnen Vorschläge macht, wie man möglicherweise früher aus dem Leben scheidet. Sie müssen auf Menschen stoßen, die ihnen Zuversicht spenden – nicht mit dem billigen Verweis „Das wird schon.“, sondern dadurch, dass man die Perspektive aufschließt, die es immer noch gibt. Heilende Berufe sollten Menschen helfen, sich mit der Krankheit anzufreunden und zu entdecken, dass sie immer noch Potential haben, immer noch Menschen begegnen und sie selbst sein können, allein durch die Art und Weise, wie sie jemanden anschauen. Da sind die heilenden Berufe nicht irgendwelche Dienstleistungsanbieter oder unparteiische Leistungserbringer. Man kann nicht unparteiisch sein, wenn jemand in Not ist. Man muss Partei ergreifen dafür, dass diese Menschen neu lernen Ja zu sagen zu diesem Krankgewordensein.

Gilt dieses uneingeschränkte Ja auch bei Lebensbeginn?
MAIO: In unserer Zeit wird den Menschen beigebracht, dass sie ein Anrecht darauf hätten, über das ungeborene Leben zu verfügen und sich auszusuchen, welches man nimmt und welches nicht. So, als sei es etwas, das man bestellt, prüft und dann auch wieder abbestellt. Aber keiner kann haben wollen, dass er am Anfang seiner eigenen Existenz dem Belieben Dritter ausgeliefert gewesen wäre. Die angemessenste Haltung dem Leben gegenüber kann nur sein, jedes Leben als eine Gabe zu betrachten. Im Angesicht dieses Geschenkcharakters müssen wir das Leben als etwas in sich Wertvolles achten und es nicht erst einer Qualitätsprüfung unterziehen, bevor wir es annehmen.
Der Embryo ist der Anfang unserer Existenz. Ab da ist dieses Leben in sich wertvoll. Und auch das kränkeste Leben ist wertvolles Leben. Wir dürfen uns nicht einreden lassen, nur das funktionierende, leistungsfähige, gesunde Leben sei wertvoll. Auch Menschen mit Behinderung sind Teil der Vielfalt unserer Gesellschaft. Sie sind eine absolute Bereicherung für uns; sie sind unverwechselbare, faszinierende Individuen. Wir müssen nur bereit sein, uns in jeder Begegnung mit ihnen dafür aufzuschließen.

Damit sind wir bei der vorgeburtlichen Diagnostik, oder?
MAIO: Immer, wenn wir sie im Hinblick auf die Abtreibung machen, steht dahinter die Frage, welches Leben lebenswert ist und welches nicht. Ich meine, es steht uns Menschen nicht zu, ein solches Urteil zu fällen. Ich finde, dass die Medizin grundlegend versagt, wenn sie – auch weil sie selbst rechtliche Sanktionen befürchtet – die Abtreibung als Lösung empfiehlt. Das darf sie schon deswegen nicht tun, weil Studien belegen, dass viele Frauen noch Jahrzehnte später Schwierigkeiten damit haben, dass sie abgetrieben haben. Da wehrt sich die Psyche. Natürlich nicht bei allen Frauen. Aber bei vielen.
Viele haben einfach Angst, dass die Gesellschaft ihnen Vorwürfe macht, wenn sie ein Kind mit Behinderung haben. Aber das ist das Maximum der entsolidarisierten Gesellschaft: eine Gesellschaft, in der es nicht hochgeschätzt wird, wenn man Ja zu jedem Leben sagt; sondern wo implizit erwartet wird, dass man Menschen mit Behinderungen ausselektiert, weil es als rechenschaftspflichtig und fahrlässig gilt, wenn man jedes Leben bedingungslos annimmt. Wir sollten soziale Strukturen schaffen und finanzielle Unterstützung bieten, die es Eltern von Kindern mit Behinderungen leichter machen, und vor allem müssen wir den Eltern moralische Unterstützung geben, damit sie sich dieses Ja zum Leben auch in unserer Gesellschaft trauen können.

Darüber nachzudenken ist heute wichtiger denn je. Der neue Bluttest auf Trisomie 21 ist hochgefährlich, eben weil er so einfach scheint. Deshalb wird man ihn irgendwann routinemäßig immer vorschalten. Damit werden dann Kinder mit Trisomie 21 mehr oder weniger ausgemerzt. Und das finde ich unmenschlich. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Gesellschaft sich kollektiv gegen die Existenz dieser Kinder entscheidet. Eine solche inhumane Gesellschaft können wir nicht wollen.

Vielen Dank für dieses engagierte Plädoyer für das Leben!
Gabi Ballweg

Giovanni Maio, Jg. 1964, ist Professor für Medizinethik und Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin in Freiburg. Er ist Mitglied des Ausschusses für ethische und medizinisch-juristische Grundsatzfragen der Bundesärztekammer und des Ethik-Beirates der Malteser Deutschland sowie Berater der Deutschen Bischofskonferenz. Maio hat Medizin und Philosophie studiert.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2012)
Ihre Meinung ist uns wichtig, schreiben Sie uns! Anschrift und E-Mail finden Sie unter Kontakt.
(c) Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt, München