25. April 2013

An Demenz erkrankt man nicht allein.

Von nst1

Obwohl die Zahl der an Demenz und Alzheimer Erkrankten in unserer Gesellschaft weiter steigt, weiß man oft noch wenig über die Krankheit. Oft bestehen Ängste und eine gewisse Scham im Umgang damit. Wir fragen Chefarzt Dr. Rupert Püllen aus Frankfurt, was man vorbeugend tun kann, wie Angehörige sich verhalten sollten und was die Kranken mitbekommen.

Herr Püllen, muss man sich Sorgen machen, wenn man immer wieder Schlüssel sucht?
PÜLLEN: Nicht jede Vergesslichkeit ist gleich eine Demenz! Jeder vergisst mal was, gerade im Alter. Typische Kennzeichen einer Demenz sind Störungen des Gedächtnisses und weiterer Gehirnfunktionen wie der Urteilsfähigkeit oder der Sprachfähigkeit. Aber eine Demenz liegt nur dann vor, wenn die Störung so ausgeprägt ist, dass damit die Alltagstauglichkeit beeinträchtigt wird. Außerdem müssen die Beeinträchtigungen längere Zeit andauern; man spricht von einem halben Jahr.

Und was ist der Unterschied zwischen Demenz und Alzheimer?
PÜLLEN: Demenz ist der Überbegriff. Und die Alzheimersche Krankheit ist die in unseren Breitengraden häufigste Ursache einer Demenz. Andere sind die Demenz nach Schlaganfällen, bei Parkinson-Syndrom, im Rahmen von Schilddrüsenfunktionsstörungen, Infektionskrankheiten oder bei Alkoholkrankheit.

Kann man etwas tun, um vorzubeugen?
PÜLLEN: Man kann vieles tun, je nach den unterschiedlichen Formen. Aber Anti-Aging-Substanzen, die man im Internet für teures Geld kaufen kann, helfen nicht!
Es sind hingegen ganz basale Dinge, die man zusammenfassen kann mit einem gesunden Lebensstil. So senken körperliche Bewegung und Krafttraining das Risiko kognitiver Einbußen. Ebenso geistige Betätigung; dann ist das Gehirn trainiert, und wenn die pathologischen Prozesse einsetzen, hat es eine größere Reserve, bis die Gehirnfunktion unter eine kritische Schwelle sinkt.
Eine Untersuchung aus Schweden hat gezeigt, dass das Risiko einer Demenzerkrankung geringer ist, wenn man gute soziale Kontakte hat. Dabei gab weniger die Zahl der Kontakte den Ausschlag als vielmehr die subjektiv empfundene Qualität der Beziehung. Wer also gute soziale Kontakte pflegte, hatte ein geringeres Risiko, in den folgenden Jahren an einer Demenz zu erkranken.
Beobachtungen legen die Vermutung nahe, dass eine gesunde Ernährung wichtig ist. So können bestimmte ausgeprägte Mangelzustände – etwa von Vitamin B12 und Folsäure – zum klinischen Bild einer Demenz beitragen.
Eine aktuelle Untersuchung zeigt außerdem, dass Schlafmittel der Benzodiazepin-Gruppe das Risiko erhöhen. Und bei Diabetikern, die blutzuckersenkende Substanzen nehmen, steigt es durch Unterzuckerungen.

Ist Demenz eine Zivilisationskrankheit?
PÜLLEN: Demenz ist eine Erkrankung des höheren Lebensalters, und weil immer mehr Menschen immer älter werden, sehen wir auch eine Zunahme demenzieller Symptome. Früher erreichten die Menschen gar nicht das Alter, in dem eine Demenz so häufig auftritt.

Gibt es bei Alzheimer Behandlungsmöglichkeiten?
PÜLLEN: Prinzipiell ist eine Alzheimer-Demenz nicht heilbar. Sie schreitet voran; bei einigen schneller, bei anderen kann sie bis zehn Jahre und länger dauern. Medikamente, sogenannte Anti-Dementiva, können den Abbau der Hirnleistung verlangsamen, und andere können die Verhaltensauffälligkeiten einer Demenz bekämpfen.
An einer Demenz erkrankt nie nur eine einzelne Person, sondern immer ein ganzes soziales System. Denn die Erkrankung des Einzelnen hat immer Auswirkungen auf sein Umfeld, zum Beispiel den Ehepartner, der dann vielleicht depressive Phasen erlebt. Als Arzt sollte man dieses ganze soziale System im Blick behalten.
Da haben dann nicht-medikamentöse  Behandlungsformen einen hohen Stellenwert. Dazu zählt insbesondere die Art der Kommunikation.

Inwiefern?
PÜLLEN: Ein typisches Beispiel: Ein alter Mann wird demenzkrank. Die Ehefrau merkt nur, er ist vergesslich. Sie bittet ihn, einen Teller zu holen, und er kommt mit einem Handtuch zurück. Dann schimpft sie und sagt: ‚Du nimmst mich ja gar nicht ernst. Früher warst du viel höflicher.’ Und es gibt Streit. – Die Ehefrau merkt nicht, dass es kein böser Wille, sondern einfach nur Vergesslichkeit, also Ausdruck der Krankheit ist.
Das ist eine der Fallen, in die Angehörige tappen können. Eine andere ist, dass man Demenzkranken auf der Faktenebene widerspricht. Also etwa: Eine 90-jährige Demenzkranke sagt: ,Ich muss zu meiner Mutter.’ Als Anfänger erwidert man: ‚Aber Ihre Mutter ist doch schon lange tot.’ Dann wird sie ganz aggressiv. Wenn man im Umgang mit Demenzkranken ein wenig geschult ist, fragt man nach: ‚Machen Sie sich Sorgen um Ihre Mutter?’
Man muss sich also ganz in die Lebenswelt des Demenzkranken hineinleben. Denn wenn man den Kranken mit der Faktenwelt konfrontiert, löst man Aggressionen aus. Wenn man es schafft, ganz in die Welt des Kranken hineinzugehen, kann man aus dieser Ebene heraus gut mit ihm sprechen. Die Kommunikation mit Demenzkranken kann in gewisser Weise als Modell für die Kommunikation mit jedem Menschen dienen.

Sind aggressive Reaktionen der Demenzkranken dann das Ergebnis einer Fehlkommunikation?
PÜLLEN: So absolut würde ich es nicht formulieren. Aber manche Reaktionen werden verstärkt durch eine nicht personenzentrierte Kommunikation. Es gibt aber auch Weglauftendenzen und eine gewisse Enthemmung, die zu aggressiven Reaktionen führen. Eine gute Kommunikation kann jedoch dazu beitragen, dass Aggressionen seltener werden.

Haben Sie Tipps, worauf Angehörige achten sollten?
PÜLLEN: Ganz wesentlich ist, das Verhalten einer Erkrankung zuzuordnen. Wenn man ein Bein gebrochen hat und deshalb nicht mehr laufen kann, wird keiner sagen: „Geh und kauf’ das ein!“ Bei einem Demenzkranken ist das nicht so offenkundig. Alles entwickelt sich schleichend über Monate und Jahre hinweg. Trotzdem kriegen sie Aufträge oder es werden Erwartungen formuliert, die sie nicht umsetzen können. Das führt oft zu Aggressionen und zu Stress. Da hilft die Aufklärung: Er kann es nicht oder nur mit Unterstützung.
Angehörige sollten sich bewusst machen, dass die Demenz eine sehr langwierige Erkrankung ist, über viele Jahre hinweg. Keiner kann eine so lange Zeit ohne Auszeiten durchtragen. Deshalb ist es ganz wichtig, dass die Angehörigen sich bewusst machen, dass sie Unterstützung brauchen, und es gibt inzwischen ja viele Beratungsmöglichkeiten, Alzheimergruppen, kirchliche Angebote und auch Tagesstätten.
Wenn Demenz diagnostiziert wird, sollte man versuchen, über Patientenverfügungen und finanzielle Dinge zu sprechen und entsprechende Entscheidungen nicht aufschieben. Irgendwann stehen viele vor der Frage, ob eine künstliche Ernährung angesagt ist oder ob man die Pneumonie, die auftritt, noch mit Antibiotika behandeln soll. Da ist es gut, wenn man sich frühzeitig Gedanken macht und aufschreibt, was im Sinne des Demenzkranken ist.

Ich glaube, eine Gefahr ist, dass man sich aus sozialen Kontakten zurückzieht.
PÜLLEN: Das stimmt, weil einem bestimmte Reaktionen des Kranken peinlich sind …

Wieviel nimmt der denn davon wahr?
PÜLLEN: Das ist schwer zu sagen und hängt auch von der Tagesform ab: Es gibt Tage, da nimmt er sehr viel wahr und andere, da nimmt er weniger wahr. Und: Selbst wenn er etwas wahrnimmt – er vergisst es oft wieder. Für den Angehörigen ist das viel schwieriger, weil der nicht vergisst.
Und der Demenzkranke hat weniger ein Gespür für Fakten als für Stimmungen und die Atmosphäre. Auch wenn er fortgeschritten dement ist, merkt er, ob man liebevoll mit ihm umgeht oder nicht. Aber er kümmert sich nicht darum, ob die Tablette grün oder gelb ist, was für die Angehörigen jedoch ganz wichtig ist.

Also auch hier: Die Atmosphäre ist wichtig, nicht die Fakten?
PÜLLEN: Und eine möglichst gleichbleibende Tagesstruktur. Viel Vertrautes, das immer wiederkehrt. Jeder größere Ortswechsel kann den Zustand verschlechtern und, wie es medizinisch heißt, ein „Delir“ auslösen: Wer schon eine leichte Demenz hat, kann dann eine akute Verschlechterung erleiden. Das gilt übrigens auch für eine Krankenhausaufnahme.
Tröstlich ist jedoch für die Angehörigen, dass viele Demenzkranke gar nicht so sehr unter ihrer Krankheit leiden wie die Umgebung. Für sie ist der Anfang der Erkrankung oft bitter, wenn sie spüren, dass bestimmte Funktionen nicht mehr zur Verfügung stehen. So ist es immer ein großes Konfliktfeld, das Autofahren aufzugeben. Denn zu einer Demenz kann auch die fehlende Krankheitseinsicht gehören. Viele reagieren in dieser Phase mit einer Depression oder mit depressiver Verstimmung.
Die Krankheit hat zwar viele schlimme Seiten und der Alzheimer-Typ ist nicht heilbar. Aber die Erkrankten können oft über lange Zeit eine gute Lebensqualität haben, wenn sie selbst und das Umfeld sich auf die Erkrankung einstellen.
Das zeigt auch der kürzlich erschienene Film „Vergissmeinnicht“. Er schildert ein realistisches Lebensbild einer Demenz-Patientin, nicht beschönigend und mit einer gewissen Situationskomik. Aber sie hat eine gute Lebensqualität, weil die Familie zu ihr steht.

Herzlichen Dank für das aufschlussreiche Gespräch – und den Filmtipp.
Gabi Ballweg

Rupert Püllen,
Jahrgang 1958, ist Internist und Geriater. Er arbeitet als Chefarzt und Ärztlicher Direktor an den Agaplesion Diakoniekliniken in Frankfurt/M. und ist Privatdozent an der dortigen Goethe- Universität. Seit 2012 ist Püllen President elect der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, April 2013 )
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