25. April 2013

Blick hinter die Mauer

Von nst1

An: Kim Jong-un, Regimeführer Nordkoreas

Sehr geehrter Herr Kim Jong-un,

noch in Ihrer diesjährigen Neujahrsansprache schlugen Sie Töne an, die Hoffnung aufkeimen ließen: Von einem radikalen Wandel im Land war die Rede, einem Ende der Konfrontation mit Südkorea, Sie versprachen dem Volk eine Verbesserung des Lebensstandards. Was die Friedensabsichten angeht, hatten Tests mit atomaren Trägerraketen im Jahr zuvor jedoch Misstrauen geweckt. Ein unterirdischer Atomwaffentest im Februar und die täglichen Kriegsdrohungen der letzten Wochen haben die Hoffnung nun vollends erstickt.

Auslöser dafür war ein großes, jährlich stattfindendes Militärmanöver der USA und Südkoreas, von dem Sie sich bedroht fühlten. Aber rechtfertigt das, mit einem Atomschlag zu drohen und das seit 60 Jahren bestehende Waffenstillstandsabkommen mit Südkorea aufzukündigen?
Seit Jahrzehnten isoliert sich Ihr Land, abgesehen von wenigen, aber potenten Verbündeten wie China. Die Mauer, die Deutschland geteilt hat, wurde vor über zwanzig Jahren abgerissen. Die Mauer, die Nord- und Südkorea teilt, steht noch immer. Sie trennt nicht nur Ideologien, sondern vor allem das koreanische Volk, hindert Verwandte, sich zu begegnen und entfremdet sie voneinander. Warum diese Feindseligkeit?

Die Lage der Menschenrechte in Ihrem Land gilt als eine der schlimmsten der Welt. Westliche Hilfsorganisationen sprechen von 200 000 politischen Gefangenen in Internierungslagern; wem die Flucht gelingt, berichtet von Zwangsarbeit, Folter, Hinrichtungen quer durch alle Altersgruppen. Obwohl Nordkorea offiziell Religionsfreiheit gewährt, laufen praktizierende Christen Gefahr, in Umerziehungslager gesperrt zu werden. Ihr Land belegt auf dem Weltverfolgungsindex von Christen Platz 1.
Immer wieder kämpft Ihr Land mit Versorgungsproblemen bei Nahrungsmitteln, Wasser und Strom. Mehrmals gab es Hungersnöte; das Welternährungsprogramm versuchte, sie mit Nothilfeaktionen zu beheben. Sie finanzieren zur Abschreckung teure Atomprogramme, anstatt das Geld in die lebensnotwendige Versorgung oder eine Verbesserung der Infrastruktur zu stecken. Warum behandeln Sie Ihr eigenes Volk so schlecht?

Fernsehbilder von fanatisch der Führung ergebenen Menschen wirken vor diesem Hintergrund auf uns sehr befremdlich. Sie lassen auf jahrzehntelange, systematische Indoktrination schließen. Es scheint, als schotteten Sie Ihr Land ab, um den Bürgern die Illusion zu lassen, dass es kein besseres Leben, nichts anderes als Militärdiktatur und Einparteienpolitik geben kann.
Offizielle Vertreter Ihres Landes weisen alle Anschuldigungen regelmäßig von sich. Wenn Sie uns vorwerfen, die Informationen über Ihr Land seien tendenziös und die Wirklichkeit sehe ganz anders aus, dann beweisen Sie es! Lassen Sie eine Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrats in Ihr Land und gewähren Sie ihr freie Hand!

Wir bitten Sie dringend, Ihren Bürgern ein menschlicheres Leben zu ermöglichen! Die Nordkoreaner verdienen es wie alle Menschen, sich in Freiheit und Frieden entfalten zu können.

Mit freundlichen Grüßen,

Clemens Behr
Redaktion NEUE STADT

Unser offener Brief wendet sich an General Kim Jong-un (30), den Chef der Diktatur Nordkoreas, die seit der Staatsgründung 1948 besteht. Ende 2011 wurde er als Nachfolger seines verstorbenen Vaters Kim Jong Il zum obersten Führer von Volk, Partei und Armee ausgerufen. Das Regime verfolgt die Prinzipien des Sozialismus, der Unabhängigkeit und der Vorherrschaft des Militärs. Nordkorea ist mit 120 000 km2 Fläche etwa so groß wie die ehemalige DDR und hat 24 Millionen Einwohner.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, April 2013 )
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