11. Dezember 2014

Leidenschaft für Protonen

Von nst1

Das Europäische Kernforschungszentrum CERN in der Nähe von Genf schreibt mit seiner unterirdischen Infrastruktur Geschichte. Am weltweit größten Forschungszentrum für Teilchenphysik arbeiten 11 000 Wissenschaftler in einem weltweiten Netzwerk zusammen. Giulio Meazzini von unserer italienischen Schwesterzeitschrift CITTÀ NUOVA hat Physiker, Ingenieure und Informatiker, Männer und Frauen, getroffen.

Wenn die Straßenbahnlinie 18 aus Genf am Europäischen Kernforschungszentrum (CERN) ankommt, sucht man unweigerlich nach Anzeichen des größten Teilchenbeschleunigers der Welt, des LHC (s. Kasten), mit dessen Hilfe Wissenschaftler grundlegende Erkenntnisse über unsere Welt und ihren Ursprung gewinnen wollen. Aber nur relativ wenige Gebäude erwarten den neugierigen Besucher. Das liegt daran, dass der Großteil der technischen Infrastruktur sich etwa 150 Meter unter der Erde befindet, in einem ringförmigen Tunnel von gut 27 Kilometern Länge. Über der Erde sieht man lediglich Empfangsräume für Besucher, Büros, eine Kantine, Kontrollzentren, Straßen, die nach berühmten Physikern der jüngeren Geschichte benannt sind, kurz: eine Siedlung, in der Forschung großgeschrieben wird und in die Wissenschaftler, Ingenieure und vor allem Studenten kommen.

Beim Mittagessen in der Kantine erahnt man ein wenig, was für Menschen hier arbeiten: Im Durchschnitt zwischen 30 und 40 Jahre alt, sprechen sie nicht über Fußball, die Börse oder Mode. Ihre Themen sind Protonenstrahlen, magnetische Deflektoren, Analysedaten oder das Higgs-Teilchen.

Einer der Gründe für die Bedeutung des CERN ist, dass hier die besten Köpfe der Grundlagenphysik versammelt sind.

Wer also „sehen“ möchte, wie sich Wissenschaft und Forschung entwickeln, wer die führenden Forscher erleben will, muss hierher kommen. Sicher, es gibt viele bedeutende Forschungszentren in der Welt, aber „wenn man so verrückt ist, Physik zu studieren, die ganzen Jahre an der Uni durchhält, mit allen Rückschlägen, Mühen und auch Erfolgen, dann ist das CERN der Ort in Europa; nicht nur wegen der Versuche, die man hier durchführt, sondern vor allem wegen der vielen qualifizierten Leute.“ Daran hat Chiara Bracco keinen Zweifel. Die italienische Beschleunigerphysikerin arbeitet seit neun Jahren am CERN und ist zusammen mit anderen verantwortlich, dass Protonenstrahlen „kreisen“, was meint, sie mit hoher Geschwindigkeit und Präzision in den 27 Kilometer langen unterirdischen Magnetring einbringen, sie beschleunigen, sie dort zusammenstoßen lassen, wo es vorgesehen ist, und sie dann wieder ohne Zwischenfälle „abfangen“.

Die Führungsrolle des CERN, unterstreicht Chiara Mariotti vom „Nationalen Zentrum für Physik“ in Turin, beschränkt sich jedoch nicht auf die Physik, sondern gilt auch der Technologie: „Kaum einer spricht von den Ingenieuren und Beschleunigerphysikern, die einen Magnetring so bauen, dass er Protonenstrahlen genauestens eingrenzt und mit hoher Präzision bewegt.

Die beste Technologie und die besten Köpfe weltweit sind in dieser Gruppe von Ingenieuren, die Entdeckungen wie das Higgs-Boson-Teilchen (Kasten) ermöglichen.“

Sie haben entlang des kreisförmigen Tunnels vier riesengroße Höhlen gegraben, die über vertikale Bohrungen von zwanzig Metern Durchmesser mit der Erdoberfläche verbunden sind und durch die gigantische Detektoren eingeführt wurden. Diese sollen die Teilchen, die durch die Kollision der hochbeschleunigten Protonen entstehen, abfangen und messen. ALICE, ATLAS, CMS, LHCb – das sind Namen der dort unten durchgeführten Experimente, die nicht zuletzt dank des Nobelpreises für die Entdeckung des Higgs-Teilchens inzwischen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt sind. Über jeder Höhle gibt es an der Oberfläche große Hallen, die an Flugzeughangars erinnern. Darin sind die entsprechenden Kontrollstellen untergebracht und der Zugang zum vertikalen Tunnel.

Ein dritter Grund für die Sonderstellung des CERN ist „Grid“: Zehntausende Computer auf der ganzen Welt sind in diesem Computernetzwerk verbunden, um die enorme Datenmenge, die bei den Kollisionen entsteht, zu erfassen. Massimo Lamanna ist für die Erfassung und Speicherung der Billiarden (Petabyte) an Daten verantwortlich, die in den unterirdischen Tests produziert werden. Diese Daten stehen den über 200 Wissenschaftszentren weltweit zur Verfügung, die mit dem CERN zusammenarbeiten. „Unser Netzwerk ist absolut einzigartig. Das Archiv umfasst eine Datenmenge von 100 Petabyte auf Band und Festplatte. 11 000 Wissenschaftler greifen regelmäßig darauf zu oder nutzen unsere Dienste. Alle drei Jahre erneuern wir die Speichertechnologie vollständig. So wird das Risiko der Überalterung der Informationen in der Datenbank verringert. Neue Versuche liefern ständig neue Daten, die analysiert werden. Infolge der neuen Ergebnisse können auch aus alten Daten wieder neue Informationen abgeleitet werden. So werten die Wissenschaftler seit dem Start des LHC jedes Jahr alle vorhandenen Daten neu aus.“

Lamanna fährt fort: „Von allen Initiativen, die wir durchführen, gefallen mir persönlich unsere ‚Tage der offenen Tür’ am besten.

Jedes Jahr kommen Tausende von Schülern. Mehrere Hundert nehmen dann an ‚Sommerschulen’ teil, studieren und arbeiten ein paar Wochen hier mit uns. Viele von ihnen sind schon an der Uni, wissen aber noch nicht, wie sie weitermachen, ob als Physiker oder im technischen Bereich. Für sie ist das die Chance ihres Lebens. Sie erleben hier Teams von Menschen unterschiedlichen Alters, verschiedener Nationalitäten und Sichtweisen. Und das ist eine außergewöhnliche Bereicherung.“

Viele sprechen vom „Glück“, am CERN zu arbeiten. Aber auch wenn es weder Kontrolle noch Stechuhren gibt, ist die Arbeit anstrengend. Chiara Bracco erklärt: „Das Gehirn abends abzustellen, ist nicht leicht. Es gibt kaum Abende, an denen ich nach Hause gehe und nicht irgendeine Fragestellung mitnehme, etwa ‚Warum reagiert der Protonenstrahl nicht so, wie ich das angenommen habe?’ In den letzten Jahren hat die Verantwortung zugenommen, vor allem mit AWAKE, einem neuen Projekt zur Beschleunigung von Elektronen in Plasmawellen. Aber die Arbeit ist sehr spannend. Wenn ich daran denke, wie 2008 der erste Protonenstrahl in den LHC geleitet wurde:

Nach so vielen Studien, Simulationen, Stunden am Computer zu erleben, wie mein Protonenstrahl seine Runden im Beschleuniger drehte, war ein unglaubliches Gefühl. Ich hatte Gänsehaut. Es funktionierte!“

Beim Besuch des CERN beeindruckt neben der unterirdischen Infrastruktur am meisten die Entschlossenheit und Motivation der Mitarbeiter, vor allem der Frauen. Zum Beispiel Barbara Storaci, Experimentalphysikerin, 31: Seit acht Jahren hat sie einen befristeten Vertrag – über die Uni Zürich. „Diese Arbeit ist ein Lebenstraum. Die Konkurrenz ist groß, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie eine große Herausforderung. Aber das nimmt man gern auf sich, um am spannendsten und prestigeträchtigsten Ort zu arbeiten, den es für eine Physikerin gibt. Aber es ist schwer, als Frau bei der CERN oder einer Universität fest angestellt zu werden. Der Konkurrenzkampf stresst, und wenn man Familie hat, ist man gezwungen, bis an die Belastungsgrenzen zu gehen. Singles, die Tag und Nacht und auch am Wochenende arbeiten, sind im Vorteil. Aber bisher habe ich es geschafft; ich habe Mann und Kinder, nur die Festanstellung fehlt mir noch.“

Dennoch gibt keine auf. Im Gegenteil. „Einem Jugendlichen vor dem Studium rate ich immer,“ so Chiara Bracco, „sich nicht zu viele Sorgen um die Zukunft zu machen. Alle haben mir gesagt: ‚Du spinnst. Was wirst du damit anfangen?’ Stattdessen habe ich Physik gemacht und einen Job gefunden. Also mach dir nicht zu viele Gedanken über langfristige oder wirtschaftliche Perspektiven, mach das, was dir leidenschaftlich Spaß macht.“

Und wie geht’s am CERN weiter?
Das Standardmodell der Teilchenphysik ist mit dem Nachweis des Higgs-Boson bestätigt. Aber es erklärt noch nicht die „dunkle Materie“ oder den Unterschied zwischen Materie und Antimaterie im Universum. Für die Erforschung dieser „neuen Physik“ braucht es eine noch höhere Beschleunigung. Deshalb arbeiten die Forscher derzeit unter anderem daran, den LHC im Jahr 2015 noch leistungsfähiger wieder in Betrieb zu nehmen, um dann zu neuen, unerwarteten Erkenntnissen durchzustoßen.
Giuglio Meazzini

Der „Large Hadron Collider“ (LHC)
ist der leistungsfähigste Teilchenbeschleuniger der Welt. Sein genauer Umfang beträgt 26 659 Meter. In seinem Innern sind insgesamt 9300 Magnete untergebracht. Läuft der LHC mit Höchstleistung, rasen die Protonen 11 245 Mal pro Sekunde durch den LHC-Beschleunigerring und erreichen beinahe Lichtgeschwindigkeit. Zwei Protonenstrahlen kreisen mit einer maximalen Energie von 7 Tera-Elektronenvolt (TeV) und prallen mit 14 TeV aufeinander. Damit die bis zu einer Milliarde Protonenkollisionen pro Sekunde erfasst und gespeichert werden können, haben Physiker und Ingenieure gewaltige Geräte gebaut, die die Flugbahnen der Teilchen mit einer Präzision im Mikrometerbereich messen.

Das Higgs-Boson-Teilchen
Das Standardmodell der Teilchenphysik beschreibt die Welt der kleinsten Teilchen und die Kräfte, die zwischen ihnen wirken. Das Modell wurde in vielen Experimenten überprüft und bestätigt. Nur wie Teilchen ihre Masse bekommen, konnten die Wissenschaftler lange nicht im Experiment bestätigen – bis 2012 das nach dem britischen Physiker Peter Higgs benannte Higgs-Teilchen (oder Higgs-Boson) im CERN entdeckt wurde. 2013 gab es dafür den Nobelpreis
für Physik.

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Dezember 2014)
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