12. November 2015

Tropfen für Tropfen

Von nst1

Tausende von Flüchtlingen aus Myanmar leben in großen Lagern im Norden Thailands.  Kinder einer Schule im italienischen Latina haben eine Brücke der Solidarität zu ihren Altersgenossen dort geschlagen. Eine für alle Beteiligten prägende Erfahrung. 

Eine Unmöglichkeit der Liebe, wie nur Kinder sie zustande bringen, nennt Luigi Butori die Brücke der Freundschaft, die zwischen Kindern aus Latina, einer Kleinstadt südwestlich von Rom, und Flüchtlingskindern im 10 000 Kilometer entfernten Nordwesten Thailands in den vergangenen Jahren entstanden ist und das Leben auf beiden Seiten verändert hat. Der Italiener lebt seit Jahren in einer Fokolargemeinschaft in Bangkok. „Und schon lange lag uns die Unterstützung der Flüchtlinge aus Myanmar im Nordwesten Thailands am Herzen.“ Immer wieder waren sie von Bangkok aus – 490 Kilometer – dorthin gefahren; seit Oktober 2013 tun sie es nun auch als Botschafter der Kinder aus Latina.

Alle Fotos: (c) Luigi Butori

Mae-Sot ist eine Provinzstadt in der bergigen Landschaft im Nordwesten Thailands, direkt an der Grenze zu Myanmar (auch Birma oder Burma). Offiziell waren in Mae-Sot 2012 gut 31 000 Einwohner registriert. Tatsächlich leben hier und in der Region Zehntausende Flüchtlinge aus Myanmar. Die genaue Zahl ist unklar, aber Schätzungen gehen von über 150 000 Menschen aus. Unter ihnen sind auch Angehörige einer ethnischen Minderheit, dem Volk der Karen1), das in Myanmar politisch verfolgt wird. „Sie gehören zu den Ärmsten der Armen“, erklärt Butori. „Keiner kümmert sich um sie. Sie leben nicht in den großen Lagern, haben keine Papiere. Viele von ihnen haben sich jahrelang im Urwald versteckt, bevor ihnen die Flucht gelang. Jetzt wohnen sie in Straßengräben und zwischen Fabrikmauern in Elendshütten, manchmal gerade noch so am Leben. Man spricht nicht von ihnen, aber alle wissen um ihre Existenz, denn sie sind Gold wert! Sie arbeiten illegal und erhalten so gut wie nichts dafür. Darum siedeln sich viele Fabriken hier an.“
Durch Programme von internationalen Hilfsorganisationen entstanden in den vergangenen Jahren auch rund 70 Schulen in der Region von Mae-Sot, viel zu wenig für die – geschätzt – 30 000 Kinder, die mit ihren Eltern die Grenze überquert haben. Von der thailändischen Regierung erhalten diese Schulen keinerlei Unterstützung und sind auf den Einfallsreichtum und internationale Spenden angewiesen.
Eine dieser Schulen heißt „Tropfen für Tropfen“; der Name erinnert daran, dass auch viele kleinen Tropfen mit der Zeit einen Bach und später sogar einen Fluss bilden können. Die Fokolar-Bewegung in Thailand hat die Schule ins Leben gerufen und unterstützt sie, nicht zuletzt durch das Engagement der Schulkinder in Latina. Es ist eine Schule für birmanische Kinder aus Landarbeiterfamilien, die in den Flüchtlingslagern nicht aufgenommen werden. Wo heute die Schule steht, war vorher nichts.
„Nur die Liebe schafft Dinge aus dem Nichts“, staunt Luigi Butori bei seinen Fahrten in den Norden.
Trotz allem Einsatz kann man die Schule aber keinesfalls mit europäischen Standards vergleichen: In dem einfachen Gebäude können die rund 60 Kinder – durch Stoffbahnen abgetrennt – in vier Klassen unterrichtet werden. Die Tafeln sind schon etwas kaputt; die Lehrer sind Freiwillige, die etwa 50 Euro im Monat bekommen; es gibt Toiletten, einen Schutzzaun.

Und im italienischen Latina? Dort begann im Sommer 2013 alles mit dem Pausenbrot eines Kindes, das mehrere Tage hintereinander im Mülleimer gelandet war. Die Lehrerin wollte das nicht so stehenlassen und erzählte von Kindern, die nichts zu Essen hatten. Betroffen fragte die Klasse nach und so brachte die Lehrerin am nächsten Tag Fotos der Kinder aus Mae-Sot mit; sie stammten von Luigi Butori, der seinen Bekannten in Mails und über die sozialen Netzwerke immer wieder von den Flüchtlingskindern erzählte. Die Kinder in Latina waren beeindruckt und wollten sofort etwas tun. Die Bilder, die sie für ihre Altersgenossen in Thailand malten, scannte ihre Lehrerin ein und mailte sie nach Bangkok. Luigi Butori und seine Freunde brachten sie beim nächsten Besuch nach Mae-Sot und berichteten dann wieder nach Latina. Dort hatten die Kinder inzwischen angefangen, Dinge zu sammeln, die sie nach Thailand schicken wollten: Spielzeug, Hefte, Stifte, Kleidung. Bis Oktober hatten sie genug zusammen, dass sich eine Frachtsendung nach Mae-Sot lohnte: 30 Kisten gingen auf die Reise.
Aber damit nicht genug. Mitte Mai 2014 erlebten Schulleiter, Lehrkräfte, Eltern und Großeltern in Latina, wie ihre Kinder ihnen ihr Traumprojekt vorstellten: Sie wollten für die Flüchtlingskinder in 10 000 km Entfernung eine Schule ermöglichen. Dazu starteten sie Initiativen und Projekte: ein Theaterstück, eine Tombola, Verkauf von Süßigkeiten und Kuchen. Geschäftsleute der Kleinstadt erfuhren von dem Vorhaben. Auch sie gaben, was sie konnten: Einkaufsgutscheine, eine Kaffeemaschine, Theaterabos und weitere Preise für die Tombola. „Unter den Einwohnern von Latina ist so eine besondere Sensibilität gewachsen”, erzählen diejenigen, die sich engagieren. „Nie hätten wir uns das träumen lassen. Liebe und Solidarität erblühen, wo man sich das am wenigsten erwarten würde!”
DSC_1048_partAm Ende der Veranstaltung in Latina, nach vielen verkauften Kuchen und der Auslosung all der vielen Preise, waren alle überglücklich. Eine Mutter gestand: „Meine Tochter hat schon den Rucksack beiseite gelegt, den sie mit dem nächsten Transport nach Thailand schicken will. Und hin und wieder steckt sie noch Stifte oder Hefte dazu für ihre ‚Karen-Geschwister’“. Eine andere Mutter kam mit Keksen, die hübsch verpackt und mit thailändischen Schriftzeichen beschriftet waren: Sie hatte sich im Internet die Übersetzungen der Namen herausgesucht. Die Kekse waren sofort verkauft! Und ein Vater erklärte bewegt: „Diese Erfahrung der Solidarität werden sich die Kinder immer im Herzen bewahren und wir uns auch!”
Mit dem eingenommenen Geld konnte in Mae-Sot ein Stück Land gepachtet werden. Die einfache kleine Schule konnte schon bald ihren Betrieb aufnehmen. Luigi Butori erklärt: „Für uns ist das der Beginn eines großen Abenteuers. Wir möchten hier nicht nur für einige wenige da sein. Aber diese Schule ist ein erster Schritt!“ Butori und die anderen der Fokolar-Bewegung in Thailand sprechen von einer „unglaublichen Partnerschaft“ zwischen einer Welt, in der es alles im Überfluss gibt und einer, in der Ungerechtigkeit, Krankheit, Ausbeutung, Vergewaltigung das bisherige Leben von Kindern zeichnete. Viele der Karen-Kinder haben Unglaubliches erlebt. Manchmal erinnern sich die Eltern nicht einmal an das genaue Geburtsdatum ihrer Kinder.
„Die einen haben mehr als genug und die anderen danken Gott jeden Morgen, dass sie noch leben!“
Wenn die Kisten aus Latina in Thailand eintreffen – eine Speditionsfirma hat sie schon mehrmals kostenlos in ihren Containern mitgenommen – müssen sie durch den Zoll. Ein Abenteuer für sich, wissen diejenigen in Thailand, die schon öfters auf Lieferungen aus Europa gewartet haben. „Aber die aus Latina sind etwas Besonderes!“, unterstreicht Luigi Butori. „Die Schulkinder haben sie fantasievoll beschriftet, bemalt und adressiert: ‚Für unsere Freunde in Mae-Sot!’ steht da rundherum in Wort und Bild. Auch die Zollbeamten können sich dieser Botschaft nicht entziehen und haben sie nicht nur einmal problemlos durchgewunken!“
DSCN5450Dass Liebe die Herzen bewegt, erleben „die Botschafter“ in Thailand dann aber vor allem, wenn sie die Pakete nach Mae-Sot bringen. Die thailändischen „Botschafter“ ergänzen sie mit Schokolade, Milch und anderen in Mae-Sot nicht alltäglichen Leckereien. Im Waisenhaus, in der Schule, auf den Reisfeldern, in den Straßengräben – wo immer sie die Pakete anliefern und öffnen, verändern diese das Leben der Kinder und ihrer Eltern: „Dass jemand an sie denkt, ist wie ein Sonnenstrahl, der all das Elend erhellt! Sie spüren die Wärme. Ich komme mir dann vor wie an einem Wallfahrtsort, wo man nur staunen kann über viele Wunder, die passieren.“
DSC_1053Wenn Luigi Butori in Italien ist, besucht er die Schulkinder in Latina. „Sie sind wie elektrisiert vom Gedanken, dass ihre Spielsachen in einem großen Schiff übers Meer bei Kindern ankommen, die nichts haben.“ Ein Mädchen konnte es kaum fassen, als sie ein Foto eines Kindes aus Mae-Sot sah, das ihre Puppe fest umschlungen hielt.

„Liebe ist so“, erklärt Luigi Butori dann fast poetisch. „Sie bringt die Wüste zum Blühen; sie bewirkt, dass du Unmögliches tust und dabei glücklich bist!“
Und, so gesteht der Italiener: „Wenn ich das so miterleben kann, bin ich voller Freude und Hoffnung. Die Welt, von der ich träume, scheint dann greifbar nah zu sein: eine Welt, in der man keine Nahrungsmittel mehr wegwirft, während anderswo Menschen hungern; eine Welt, in der ein Ausgleich möglich ist; eine Welt, in der man einander gern hat und sich hilft.“
Gabi Ballweg

1) vgl. Bericht in der Neuen Stadt vom Juni 2011

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2015)
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