15. März 2016

Die Ärztin, die ungeahnte Kräfte weckt

Von nst1

Die Muslimin Noorjehan Majid setzt sich seit 2002 in Mosambik für Aids-Patienten ein. Am 22. Januar hat sie in Aachen den Klaus-Hemmerle-Preis 2016 erhalten. Wie sieht ihr Engagement aus? Was treibt sie an?

Felismina hatte das Glück, dass sich ihr Großvater rührend um sie kümmerte. Foto: (c) Sant'Egidio

Felismina hatte das Glück, dass sich ihr Großvater rührend um sie kümmerte. Foto: (c) Sant’Egidio

Felismina war noch kein Jahr alt, da waren ihre Eltern schon an Aids gestorben. Auch sie selbst war infiziert. Immerhin kümmerte sich der Großvater um sie, nahm das kleine Mädchen in seine Hütte. „Es ist nicht üblich in Afrika, dass Väter oder Großväter für kranke Kinder sorgen“, weiß Dieter Wenderlein aus Würzburg. Der Apotheker reist seit Ende 2001 mehrmals im Jahr für die katholische Gemeinschaft Sant’Egidio nach Afrika und arbeitet bei deren Aidsprogramm DREAM 1) mit. Der Großvater kam mit Felismina regelmäßig in das Gesundheitszentrum, wo Noorjehan Majid Ärztin war, gab ihr die Medikamente, spielte liebevoll mit ihr. „Seine Hingabe hat Noorjehan und mich sehr beeindruckt. Es war eine meiner ersten Erlebnisse mit ihr“, erzählt Wenderlein. Felismina schaffte es nicht. Sie war zu krank, das Medikament noch nicht ausgereift. Das war 2003.

Seitdem ist die Entwicklung enorm vorangegangen: Wenn ein HIV-Patient täglich seine Tabletten schluckt, kann er heute weitgehend ein normales Leben führen.

Selbst während Schwangerschaft und Stillzeit können Frauen die Aidsmedikamente nehmen. Damit kann einer der wichtigsten Hauptansteckungswege in Afrika unterbrochen werden: die Übertragung von der Mutter auf ihr Kind. „Im letzten Jahr wurde von den Patientinnen unserer elf DREAM-Zentren in Mosambik kein einziges HIV-positives Baby geboren“, erzählt Wenderlein. „Das ist gigantisch!“ Viele Frauen suchen die Zentren allerdings erst kurz vor oder gar nach der Geburt auf, wenn der Säugling schon angesteckt ist.

Foto: (c) Sant'Egidio

Foto: (c) Sant’Egidio

Ein kleiner Stich in die Fingerkuppe, ein Tropfen Blut auf den Teststreifen und innerhalb einer Viertelstunde ist das Ergebnis des Aidstests klar. Auch wenn die Diagnose HIV-positiv kein Todesurteil mehr bedeutet, ist sie doch erschütternd: „Den Test binden wir ganz behutsam in Beratungsgespräche ein“, sagt Dieter Wenderlein. „Wenn der Patient HIV-negativ ist, sagen wir, du hast Glück. Tu alles, dass das so bleibt. Komm in einem Jahr wieder und lass dich neu testen.“ Ist der Patient infiziert, bringen ihm DREAM-Mitarbeiter wie Noorjehan Majid das in geschützter Atmosphäre bei: „Keine Panik, die Welt geht nicht unter, du kannst damit leben. Wir machen alles, was medizinisch möglich ist.“
Ein Schicksalsschlag ist die Diagnose trotzdem, vor allem für Frauen. Bei den Routineuntersuchungen für Schwangere werden 10 bis 15 Prozent HIV-positiv getestet. „Viele brechen dann zusammen“, hat Wenderlein erlebt. „Sie fürchten sich, dass ihre Männer sie deswegen rausschmeißen. Dann stehen sie mit ihren Kindern auf der Straße und wissen nicht, wie sie über die Runden kommen sollen.“

Foto: (c) Sant'Egidio

Foto: (c) Sant’Egidio

Noorjehan Majid hat an einem Arbeitstag dreißig oder mehr Patienten. Sie kennt sie, nimmt sich Zeit. Viele haben große Schwierigkeiten: unterernährte Kinder, Prostitution, alkoholabhängige Männer, psychische Probleme. „Wir versuchen, sie in ein Netz aufzunehmen, wo ihnen zu Hause geholfen wird.“ Frau Majid hat das nötige Feingefühl, um die Patienten neu zu motivieren. Als Frau, „die Kräfte im Menschen freisetzt, wo kaum mehr Kraft vermutet wird“, bezeichnete die deutsche Botschafterin beim Heiligen Stuhl, Annette Schavan, sie in ihrer Laudatio bei der Verleihung des Klaus-Hemmerle-Preises. Viele Patientinnen übernehmen gern einen Dienst, aus Dankbarkeit für die Behandlung: besuchen andere, erinnern an Arzttermine oder die Tabletteneinnahme, erklären jungen Müttern, wie sie mit dem Neugeborenen umgehen oder ihre unterernährten Kinder aufpäppeln können. Wenderlein erläutert, dass diese so genannten Aktivistinnen – sonst wegen ihrer Krankheit stigmatisiert – dadurch neue Würde erhalten: „Sie haben eine Aufgabe, werden gebraucht, geben ihre Erfahrungen mit der Erkrankung weiter. Früher waren sie in sich gekehrt und verzweifelt, jetzt kümmern sie sich um andere und sind ganz andere Menschen. Ihr Beispiel macht Mut.“

Hausbesuch. Foto: (c) Sant'Egidio

Hausbesuch. Foto: (c) Sant’Egidio

Eine Person gilt laut Weltgesundheitsorganisation WHO als unterernährt, wenn ihr Body-Mass-Index 18,5 unterschreitet. HIV-Patienten, die darunter fallen, bekommen in den DREAM-Zentren ebenso wie schwangere Frauen, stillende Mütter und Tuberkulosepatienten monatlich ein Nahrungsmittelpaket mit Mehl, Zucker, Reis und Speiseöl. Denn mit einer mangelhaften Ernährung erhöht sich das Sterblichkeitsrisiko von Aidskranken erheblich.

„Wenn ein Patient nicht versteht, wann, wie und warum er die Medikamente nehmen muss, nützen uns die vollsten Apotheken nichts“, sagt Wenderlein.

In den DREAM-Zentren ist Warten daher kein Leerlauf. Aktivistinnen sorgen für gesundheitliche und hygienische Aufklärung. Sie erläutern den Patienten, dass sie Wasser abkochen und ihre Hände waschen müssen und dass das Klo ein paar Meter von ihrer Hütte entfernt stehen soll; geben Lektionen, wie sie sich vor einer Ansteckung schützen und den Babys in der Abstillphase Essen zubereiten können.
„Als das DREAM-Programm 2002 begann, bekamen wir zu hören: Das ist zu kompliziert, das geht in Afrika nicht, ihr seid Träumer!“, erinnert sich Dieter Wenderlein. Die Leute von Sant’Egidio wollten es aber wenigstens probieren. „So haben wir in einem Tbc-Krankenhaus in Maputo ein kleines DREAM-Zentrum eröffnet. Noorjehan war unsere erste Ärztin. Heute wissen alle: Aids-Therapie funktioniert auch in Afrika.“

Dr. Noorjehan Majid (links) untersucht ein Baby. Foto: (c) Sant'Egidio

Dr. Noorjehan Majid (links) untersucht ein Baby. Foto: (c) Sant’Egidio

Mosambik ist ein multireligiöses Land. Damit es dort funktionieren kann, braucht es ein partnerschaftliches Miteinander von Afrikanern und Europäern, Muslimen und Christen, ist Dieter Wenderlein überzeugt. Beide Religionen träfen sich im DREAM-Programm „in der konkreten Hinwendung zum Menschen, der der Hilfe bedarf“, sagte Annette Schavan in ihrer Laudatio.
Geldhähne werden zugedreht, Spenden versiegen. Dabei bedeuten die Erfolgsmeldungen nicht, dass die Gefahr gebannt und das Virus besiegt ist. Zwar nimmt die Zahl der Aidstoten ab, ist aber mit 1,2 Millionen im Jahr immer noch beträchtlich. Südlich der Sahara haben trotz aller Anstrengungen über die Hälfte der HIV-positiven Afrikaner keinen Zugang zu Aidstests. „Wenn wir jetzt reduzieren, bekommt die Epidemie wieder Aufwind “, resümiert Wenderlein. „Dann bilden sich resistente Viren und alles wird schlimmer.“
Mit den älter werdenden Aidskranken tauchen neue Probleme auf: Das Virus wirkt mit Herz- und Tumorerkrankungen zusammen. HIV-positive Frauen sind zum Beispiel leichter anfällig für Gebärmutterhalskrebs. Sant’Egidio arbeitet daran, seine Therapiezentren für die neuen Herausforderungen fit zu machen: DREAM 2.0 nennen sie ihren Plan für die Zukunft.
Clemens Behr

 

Foto: (c) Ulrike Comes

Foto: (c) Ulrike Comes

Noorjehan Abdul Majid, ist 1971 in Maputo in Mosambik geboren. Die Muslimin indischer Abstammung ist Ärztin in dem afrikanischen Land und klinische Direktorin des DREAM-Programms, dem HIV/Aids-Behandlungsprojekt der Gemeinschaft Sant´Egidio. Bisher konnten 300 000 Menschen behandelt werden, davon 70 000 Kinder.

 

Frau Majid, was hat Sie motiviert, mit Aidspatienten zu arbeiten?
Menschen sterben zu sehen und nichts für sie tun zu können, war nicht leicht. Den Familienangehörigen keine Hoffnung geben zu können, war schwer zu ertragen. Es gab ja noch keine Behandlungsmöglichkeit.

Spielt Ihr muslimischer Glaube bei der Arbeit eine Rolle?
Die Religion hilft uns, anderen zu helfen, ihren Schmerz und Sorgen aufzunehmen, sie zu lindern und die Menschen froh zu machen. Das ist für mich normal, das geschieht ganz selbstverständlich. Manchmal merke ich gar nicht, ob ich das als Muslimin, Ärztin oder Frau mache. Ich tue es einfach.

Was bedeutet es für Sie, mit einer christlichen Gemeinschaft wie Sant’Egidio zu arbeiten?
Ich bin stolz darauf! Sant’Egidio ist in vielen Bereichen aktiv: Friedensgebete, Friedensmediation, DREAM-Programm, im interreligiösen Dialog. Da sind alle Glaubensrichtungen vertreten, ohne dass ich religiöse Probleme unter uns sehe. Verschiedenen Religionen anzugehören bedeutet für mich nicht, dass wir verschieden sind. Jeder von uns hat eine religiöse Basis, und das ist es, was uns vereint.

Welchen Wert messen Sie dem Klaus-Hemmerle-Preis zu?
Der Preis hat eine große Bedeutung, weil er nicht allein mich betrifft. Es geht um die gesamte Arbeit von Sant’Egidio. Der Preis wäre ohne meine Kollegen, ohne die Sponsoren nicht denkbar. Er gilt auch denen, die im Hintergrund mitarbeiten, damit wir die Dienste kostenfrei anbieten können. Er bedeutet eine Anerkennung für jeden Patienten, der lange Wege zurücklegt, jede Aktivistin, die Patienten besucht, auch wenn sie eigene Probleme hat. – Ich habe mich gefreut, dass bei der Preisverleihung im Aachener Dom viele Religionen vertreten und alle wie Geschwister waren – eine große Familie.

1) Der Name DREAM steht für “Drug Resource Enhancement against Aids and Malnutrition”, zu deutsch etwa “Einsatz von Medikamenten zur Bekämpfung von Aids und Unterernährung”. Mehr unter dream.santegidio.org

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März 2016)
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