19. September 2019

Den Mitmenschen ganz neu sehen

Von nst5

Schwächen und Unzulänglichkeiten führen leicht dazu, dass wir von anderen enttäuscht sind, sie verurteilen, Vorurteile pflegen.

Um dem entgegenzutreten, wollen viele in der Fokolar-Bewegung jeden Morgen jede Person, der sie begegnen, mit neuen Augen sehen: die Fehler verzeihen, ja vergessen, um das Gute im Mitmenschen entdecken zu können. Ist das wirklich möglich? Wie soll das gehen?

Nina Schreiber
Psychologie-Studentin, Heidelberg
Es reicht ein patziger Kommentar und wir fangen an zu interpretieren: Etwas kann mit der Person oder ihrer Einstellung zu mir nicht stimmen! Wir zeigen dabei ein typisches Muster, wie wir Verhalten zuordnen und bewerten: Bemerken wir bei uns selbst Fehler, sind wir leicht gewillt, dies auf äußere Umstände zu schieben und uns damit zu entlasten. Schließlich wissen wir, dass wir zum Beispiel gerade unter Stress stehen und deshalb nicht unsere beste Seite gezeigt haben. Bei anderen sind wir sehr viel strenger: Zeigt unser Gegenüber negatives Verhalten, neigen wir dazu, es auf die Person selbst zu schieben. Wir achten nicht darauf, welche Ursachen dahinterstehen, sondern nehmen an, dass es an ihr selbst und ihrer Beziehung zu uns liegen muss.
Wenn wir das Gespräch suchen und offen sind für die Perspektive des anderen, geben wir ihm eine faire Chance, sein Verhalten zu erklären. Ist das nicht möglich, kann es helfen, sich selbst mögliche Ursachen zu überlegen – und hier sind der Kreativität kaum Grenzen gesetzt. Ein Beispiel: Wenn Sie beim Autofahren einen sehr langsamen Wagen vor sich haben, stellen Sie sich vor, die Person muss eine vierstöckige Hochzeitstorte transportieren. Mit dieser Vorstellung im Kopf ist es schwer, weiter böse zu sein!

Irmgard Knab
Religionslehrerin, München
Kinder überraschen mich immer wieder, da sie meist nicht nachtragend sind, wenn sie ermahnt werden. Sie brauchen oder wollen eine Beziehung mit dem Lehrer und sind auch darauf angewiesen. Verhalten sie sich destruktiv und ändern Erziehungsmaßnahmen nichts daran, stoße ich an meine Grenzen. Das entzieht viel Kraft! Dann lade ich mein Energiereservoir wieder auf, indem ich etwas unternehme, was mich aufbaut. So gelingt es mir besser, Freude am Unterrichten zu bewahren und auf Entdeckungsreise nach den ganz kleinen Fortschritten zu gehen.
Noch wichtiger ist, schwierige Situationen nicht persönlich zu nehmen, als wäre ich am Fehlverhalten der Schüler schuld! Auch wir Lehrer machen Fehler. Die kann ich ruhig zugeben und mich dafür entschuldigen. Zugleich komme ich nicht umhin – mit der nötigen inneren Ruhe – Schüler auf problematisches Verhalten hinzuweisen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Dabei empfinde ich kollegiale Gespräche als sehr hilfreich: Sie geben inneren Abstand, mehr Objektivität und – geteilte Last ist halbe Last!
Nicht zuletzt ist das Gespräch mit Gott meine tägliche Kraftquelle. Er ermöglicht mir immer wieder den neuen Blick für Kinder und Kollegen. Und auf keinen Fall den Humor verlieren: Mit einem Quäntchen Spaß lässt sich manches besser ins Lot bringen!

Volker Dornheim
Ehe-, Familien- und Lebensberater, Hagen
Eine klassische Szene vieler Paarberatungen: Sie beginnt zu erzählen. Er fällt ihr ins Wort. Jeder versucht, seine Sicht zu rechtfertigen. Bis eine Seite das Gespräch abbricht mit den Worten: „Ich weiß schon, was jetzt kommt. Es ist immer das Gleiche!“
Tatsächlich gibt es in langjährigen Beziehungen wenig, was die Partner nicht voneinander wissen. Das schafft Bindung und Vertrauen, kann aber auch zu Frust und Resignation führen. Vor allem, wenn sich Befürchtungen bestätigen: Der vergessene Hochzeitstag, die ständige Krawatte auf dem Gabentisch. Irgendwann dreht sich das Karussell enttäuschter Erwartungen immer schneller.
Ein Ausweg, den ich vielen Paaren vorschlage, ist einem Film entnommen. In der Komödie „50 erste Dates“ (USA 2004) verliebt sich ein Tierarzt in eine Frau mit Gedächtnisverlust. Er lässt sich jede Menge einfallen, um sie Tag für Tag neu zu einem ersten Date mit ihm zu bewegen. Mit Erfolg. Aber am nächsten Morgen ist alles wieder vergessen und das Spiel beginnt von neuem.
Der Gedanke, den Partner oder die Partnerin jeden Tag neu zu sehen und neu um ihn oder sie zu werben, hat schon manche müde gewordene Liebe wieder entfacht. Es kann ein Ansporn sein, den Anderen mit einer neuen Sichtweise zu überraschen – oder sich selbst überraschen zu lassen.

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(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September/Oktober 2019)
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