23. Januar 2020

Individualität: hochgeschätzt und schwer zu leben

Von nst5

Das Verhältnis von Individualität und Gemeinschaft ist spannend, manchmal spannungsreich. Es muss immer wieder neu ausgelotet werden – auch in christlichen Gemeinschaften.

Der Film „Das Leben des Brian“ der britischen Komikertruppe Monty Python enthält eine Szene, in der Brian von einem Balkon aus zu einer Menschenmenge hinunterschreit: „Ihr seid alle Individuen! Ihr seid alle völlig verschieden!“ „Jaaa!“, ruft die Menge zurück. „Wir sind alle völlig verschieden!“ Doch dann sagt einer: „Ich nicht!“
Individualität und Gemeinschaft: Zugespitzter lässt sich das Spannungsverhältnis zwischen den beiden wohl kaum aufzeigen.
Die meisten Menschen fürchten sich davor, ausgeschlossen oder ausgegrenzt zu werden. Deshalb tun sie alles, um nicht als „anders“ zu gelten. Gleichzeitig wären sie wohl tief gekränkt, wenn sie von ihren Freunden als „total normal“ charakterisiert würden. Es scheint in unserer DNA zu liegen, dass unser Handeln zwischen Individualismus und Anpassung hin- und herpendelt. Jede und jeder kennt das aus der Familie, der Arbeit oder auch der Kirchengemeinde.
Während die Extreme Individualismus und Anpassung eher negativ belegt sind, sind Individualität und Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft eindeutig positiv zu verstehen. Individualität meint die Ungeteiltheit oder auch Unteilbarkeit der Person. Der Wert der Individualität unterscheidet sich je nach Kulturkreis. In manchen Gegenden wird die eigene Persönlichkeit höher bewertet, in anderen rückt das Miteinander und Zusammenleben in den Mittelpunkt.
In unseren Breitengraden ist Individualität hochgeschätzt – und doch so schwer zu leben. Der Philosoph Eric Hoffer vermutete schon vor Jahren: Wenn Leute machen können, was ihnen gefällt, dann ahmen sie einander gewöhnlich nach.

In die Wiege gelegt
Wie entsteht Individualität? Zunächst: Sie ist uns in die Wiege gelegt. Psychologie und Pädagogik gehen heute davon aus, dass ein Kind erste Schritte zur Ausbildung einer persönlichen Individualität macht, indem es auf andere Menschen zugeht. Wenn die Umwelt ihm einfühlsam begegnet, kann sich ein stabiler Mensch entwickeln, der vertrauensvoll ins Leben blickt.

Bild: (c) FrankRamspott (iStock, bearbeitet von elfgenpick.de)

Individualität ist die Basis für Kreativität, für Motivation, für Innovationsfähigkeit und für soziale Kompetenz. Unterdrückung von Individualität hat schwerwiegende Folgen: Das Selbstbewusstsein leidet, die Fähigkeit, sich in andere einzufühlen, wird geschwächt. Menschen bekommen depressive und manchmal auch aggressive Züge.
Auch Individualität bringt Nöte mit sich. Neben der schon genannten Gefahr, dass Menschen mit ausgeprägter Eigenständigkeit oft schräg angesehen werden („Alle wollen individuell sein, aber wehe, man ist anders!“), geraten viele in Stress, weil sie in ihrer Individualität immer besser werden, sich selbst optimieren wollen. Zu den Ansprüchen, die von außen gestellt werden, gesellen sich hohe Ansprüche an sich selbst: ständige Weiterbildung, gute Fitness, Bereitschaft zur Selbstkritik – nie ist es genug!
Das Verhältnis von Individualität und Gemeinschaft muss immer wieder neu ausgelotet werden. Nur eine Gemeinschaft bringt die Individualität zum Leuchten. Was nützt die Einmaligkeit, wenn sie niemand wahrnimmt? Umgekehrt hält nur Individualität eine Gemeinschaft lebendig. Welchen Sinn hätte eine Gemeinschaft, die nicht hilft, dass jede und jeder das Beste von sich geben kann? Dem ehemaligen deutschen Außenminister Walther Rathenau (+1922) wird das Zitat zugeschrieben: „Individualität ist das, was mich von der Welt absondert; Liebe ist das, was mich mit ihr verbindet. Je stärker die Individualität, desto stärker erfordert sie die Liebe.“

Nicht ohne Risiko
Wie zeigt sich nun das Verhältnis von Individualität und Gemeinschaft bei glaubenden Menschen und in der Gemeinschaft der Glaubenden?
Auch hier tut sich eine Spannung auf: Während der einzelne Glaubende mit seiner Biographie an- und ernst genommen werden möchte, erwarten die Glaubensgemeinschaften häufig, dass man sich eingliedert und die vorgegebenen Werte übernimmt. In vielen Situationen tun sich Kirchen und auch kirchliche Gemeinschaften schwer, die Einmaligkeit und auch die Eigenheit der Einzelnen uneingeschränkt zu bejahen und sie als Grundlage dafür zu sehen, dass sie sich verbindlich auf die Gemeinschaft einlassen können. Im besten Fall suchen sowohl die einzelnen Glaubenden wie die Glaubensgemeinschaft nach dem, was Gott möchte – vom Einzelnen und von der Gemeinschaft.
Jesús Morán, Kopräsident der Fokolar-Bewegung, hat sich kürzlich in einem Vortrag mit der Frage der persönlichen und gemeinschaftlichen Entscheidungsfindung im christlichen Raum auseinandergesetzt: Er regt darin an, sich am Beispiel der Dreifaltigkeit auszurichten. „Geht es nicht eine Nummer kleiner?“, möchte man spontan fragen. Doch vielleicht lohnt es sich, seine Anregung etwas näher anzusehen.
Was macht dreifaltiges Leben aus? Die bedingungslose Liebe zwischen Vater und Sohn, die den Heiligen Geist hervorbringt. Eine bedingungslose Liebe, die sich nicht selbst genügt, sondern die der ganzen Schöpfung und insbesondere den Menschen gilt. Deshalb ist Jesus Mensch geworden. An der Seite Jesu können wir seither als Einzelne und gemeinsam dem Vater zugewandt leben. Er, Jesus, der in jeder und jedem von uns und in unserer Mitte lebt, kann uns dabei begleiten zu verstehen, was die Anliegen Gottes sind – für den Einzelnen und für die Gemeinschaft.
In diesem Prozess der Unterscheidung geht es nicht um eine Bewegung vom Ich zum Wir, sondern vom Ich zum Wir und zurück zu einem „vom Wir verwandelten Ich“. Entscheidungen treffen und verantworten kann nämlich nur der Einzelne.
Vielleicht steckt hier der Ansatz für eine fruchtbare Gestaltung der Spannung zwischen Individualität und Gemeinschaft: Die Gemeinschaft schützt und fördert das Individuum, und das Individuum vertraut sich der Gemeinschaft an. Das ist nicht ohne Risiko. Jesús Morán benennt zwei Gefahren auf diesem Weg:
Die erste: „Das Verbindende wird vereinnahmt.“ Das passiert, so Morán, wenn jemand das Verbindende, „die Einheit wie ein Tyrann behandelt, als wäre sie sein Besitz. Er glaubt, dass er der authentische Interpret des Willens Gottes ist und raubt so Jesus in der Mitte seinen Platz.“ Das Schlimme sei, dass dies bis hin zu echten Formen des Missbrauchs führen könne, bei dem die Person und das Gewissen zunichte gemacht werden.
Die zweite Gefahr betitelt Morán mit: „Das Verbindende löst sich auf.“ Er sagt: „Ohne die trinitarische Dimension (die bedingungslose gegenseitige Liebe) wird unser Leben platt; der Konsens im Heiligen Geist verfällt hin zu provisorischen Vereinbarungen, die mehr von den eigenen Interessen, persönlichen Projekten und momentanen Gefühlen bestimmt sind als von wirklichen Anforderungen, die vom Gewissen kommen.“
Klare Worte. Wichtige Worte. In jeder Situation neu das richtige Maß von Individualität und Gemeinschaft zu finden, ist jede Anstrengung wert.
Peter Forst

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2020)
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