18. März 2020

Das Problem wird zum Freund

Von nst5

Standpunkt

Herr De Stefano, Sie begleiten Menschen, die das Gefühl haben, gescheitert zu sein. Was wünschen sich diese Menschen von Ihnen?
Es ist normal, dass die meisten Menschen zu einer Beratung gehen und ausschließlich den Wunsch haben: „Nehmen Sie mir mein Problem weg!“ Das klingt oft wie ein „Killer-Auftrag“: Lösche diesen Feind schnell für mich aus! Dann ist es von Anfang an sinnvoll klarzustellen, dass ich das Problem nicht löschen kann, auch wenn wir weiter zusammenarbeiten werden.

Was können Sie anbieten?
Ich bin der Meinung, dass die „Realität“ nicht vorgegeben ist. Wir konstruieren ständig Realitäten. Wenn ein Mensch sich als „gescheitert“ fühlt, ist das in diesem Augenblick seine Realität. Alles, was er erlebt, wird von dieser Realität, von dieser Wahrnehmung geprägt. Jede einzelne Aktion wird wie durch eine Röhre gesehen. Diese „Gescheitert-Röhre“ ist ständig da.
Was kann ich also anbieten? Es ist mir wichtig, als Erstes diesen Menschen in seiner aktuellen Situation wahrzunehmen und anzuerkennen. Dazu gehört, ein paar Schritte mit ihm zu machen: ihm Zeit lassen, um zu schildern, was er erlebt, und echtes Interesse zeigen. Dann können wir langsam gemeinsam entdecken, ob er als ganze Person „so“ ist, oder nur ein Teil von ihm.

Was meinen Sie damit?
In jedem Menschen gibt es viele Anteile. Dies darf keine theoretische Erkenntnis bleiben. Gemeinsam können Klient und Coach die „Ausnahmen“ suchen, die trotz aller Schwierigkeiten in jedem Menschen vorhanden sind. Dadurch erlebt der Klient, dass das gefühlte Scheitern nicht die einzige Seite in ihm ist. Jeder besitzt viele Anteile, die oft zugeschüttet sind. Aufgabe eines Beraters – es kann auch ein guter Freund sein – ist, gemeinsam den Weg zu den Ressourcen zu gehen, die jeder in sich trägt.

Was passiert dann?
Es fängt eine neue Beziehung mit der problematischen, bedürftigen Seite an. Von wem geht sie aus? Das ist ein entscheidender Punkt: von den anderen Eigenanteilen zu der Hilfe suchenden Seite. Dadurch entstehen innere Beziehungen. Die bedürftige Seite fühlt sich nicht mehr alleine gelassen. Die anderen Anteile können trösten, hinterfragen, an alte positive Erfahrungen erinnern, Nähe zeigen. So entwickelt sich ein anderer Blickwinkel. Das Problem „verschwindet“ nicht, bekommt aber eine andere Bedeutung.

Was heißt das?
Was als Problem gesehen wird, zeigt bestimmte Bedürfnisse, die noch nicht erfüllt worden sind. Dann ist es nicht nur wahrzunehmen, sondern auch zu würdigen. Es passiert nicht selten, dass ein Problem fast wie zu einem Freund wird. Es erinnert an eine Glocke mit Alarmfunktion, die erlaubt, andere Fähigkeiten in sich zu entdecken.
Dann kann das Gefühl zu scheitern, wie jedes andere Problem, eine Chance sein. Wer hätte das gedacht!

Foto: privat

Antonio De Stefano, Diplom-Soziologe, aufgewachsen in Rom, lebt seit 1977 in Deutschland. Ausbildung in Systemischer und Hypno-Therapie. 20 Jahre lang arbeitete er in Sucht- und Psychosozialer Beratung. Seit 1997 hat er eine eigene Praxis als Berater und Coach.

Titel-Illustration: Miriam De Stefano

Die in diesem kurzen Gespräch gemachten Aussagen entwickelt Antonio De Stefano mit vielen Praxisbeispielen im kürzlich im Verlag Neue Stadt erschienenen Buch: „Ich habe einen Therapeuten gesucht und einen Realitätenkellner gefunden. Die hypnosystemische Methode in der Praxis”

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März/April 2020)
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