4. Juni 2020

Träume leben

Von nst5

Offener Brief an Sara Nuru

Sehr geehrte Frau Nuru!
Innehalten, dem Leben eine Wende geben, es neu ausrichten: einen mutigen Schritt haben Sie gewagt! Sich so entschieden von den Erwartungen anderer zu lösen und der eigenen Überzeugung zu folgen, ist nicht selbstverständlich. Dabei hatten Sie als gefragtes Model, das von einem Foto-Shooting zum anderen jettet, schon das, wovon angeblich unzählige Mädchen und junge Frauen träumen: Catwalks, bekannte Mode-Labels, Rampenlicht, Reisen, Hotels, Designerklamotten, das eigene Porträt auf Titelseiten großer Magazine, zur Welt des Glamour gehören.
Alles begann mit 15, als eine Fotografin Sie in der Fußgängerzone ansprach. Erste Fotosessions folgten. Ein Freund meldete Sie für eine Castingshow an. Dass Sie daraus als Gewinnerin hervorgingen, garantierte Ihnen die Aufmerksamkeit von Model- und Werbeagenten und Aufträge.
1986, drei Jahre vor Ihrer Geburt, hatte es Ihre Mutter und Ihre beiden Schwestern aus Äthiopien in einen kleinen bayrischen Ort verschlagen. Sie musste dafür kämpfen, dort akzeptiert zu werden. Ihr Vater konnte später nachkommen. Die Lokalzeitung berichtete dann stolz über „das erste schwarze Baby“ im Erdinger Krankenhaus.
Mit 14 waren Sie erstmals in Äthiopien. Im Land Ihrer Wurzeln fühlten  Sie sich „total deutsch“ – eine Anfrage an Ihre Identität! Mit 19 wieder in Äthiopien, mit der Hilfsorganisation „Menschen für Menschen“, diesmal konfrontiert mit der Armut, dem wahnsinnigen Kontrast zum reichen Europa. Eine Erschütterung, die Ihre Karriere als Model, die gerade Fahrt aufnahm, infrage stellte: Eine Lehmhütte ohne fließend Wasser und der tägliche Kampf ums Überleben hätte auch Ihr Schicksal sein können, wäre Ihre Mutter dem nicht entflohen.
Dass Sie irgendwann für eine Fernseh-Sendung ein Eis für 1 000 Euro mit echtem Blattgold essen sollten, ließ Sie endgültig am Modeldasein zweifeln. Sie änderten Ihr Leben radikal. Mit Ihrer Schwester gründeten Sie eine Firma, die von Kleinbauern-Kooperativen in Äthiopien Kaffee importiert; mit den Erlösen unterstützen Sie Frauen in Äthiopien mit Schulungen und Mikrokrediten auf dem Weg in die Selbstständigkeit, um sie aus Armut und Abhängigkeiten zu befreien: Aktivitäten, bei denen Sie sich nicht verbiegen müssen und die Ihrem Leben Sinn geben.
Jetzt können Sie auf andere Art Inspiration für unzählige Mädchen, junge Frauen und darüber hinaus sein: Denn Sie haben erlebt, dass Models in einer Welt des Scheins leben. Wie sie Produkte von Werbeagenten, Designern, Fotografen und Visagisten werden. Dass manche nicht damit klarkommen, je nach Aussehen, Körpermaßen und Gewicht befördert oder aussortiert zu werden. Dass es möglicherweise auf Dauer nicht zufriedenstellt, nach der Regie anderer zu tanzen, ohne als Mensch mit eigenen Interessen, Zielen und Gefühlen gesehen zu werden.
Heute sind Sie mit dem Modeln versöhnt, nutzen Ihre Bekanntheit, wählen Ihre Auftraggeber aus. Sie haben etwas, worin Sie aufgehen, das Sie erfahren lässt: Ich bin mehr als schönes Beiwerk! Ihre Geschichte regt an zu fragen: Wer bin ich, wer will ich sein? Was will ich mit meinem Leben bewirken? Was gibt ihm Sinn? – Glückwunsch, dass Sie auf Ihre innere Stimme gehört haben!
Mit freundlichen Grüßen,

Clemens Behr,
Redaktion NEUE STADT

Sara Nuru
geboren 1989 als dritte Tochter äthiopischer Einwanderer in Erding bei München. Gewann 2009 die Castingshow „Germany’s Next Topmodel“. Seitdem Botschafterin der Stiftung „Menschen für Menschen“. Gründete 2016 mit ihrer Schwester Sali die Fair-Trade-Marke nuruCoffee und 2018 den Verein nuruWomen, der Frauen in Äthiopien beim Aufbau einer eigenen Existenz unterstützt. Seit 2018 Botschafterin für fairen Handel des deutschen Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Autorin des Buches „Roots – Wie ich meine Wurzeln fand und der Kaffee mein Leben veränderte“.

www.saranuru.com

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2020)
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