5. Oktober 2020

Unterm Brennglas

Von nst5

Potenziale und Mängel. Positives und Negatives. Beides hat die Corona-Krise uns überdeutlich vor Augen gestellt.

„Was lehrt uns Corona?“ – Es war wohl April, als wir erstmals überlegten, dieses Thema anzugehen. Wir steckten mittendrin in der Krise. Aber die Zahlen gingen in Österreich schon deutlich, in Deutschland und der Schweiz ganz langsam zurück. Deshalb schöpften wir Hoffnung. Mit der Juli/August-Ausgabe, so unsere Überlegungen, wären wir noch zu nah dran, um schon eine Bilanz ziehen zu können. Aber danach würde das sicher gehen.
Wie sehr wir uns da doch geirrt haben! Während wir an dieser Ausgabe arbeiten, steigen die Zahlen der Neuinfektionen wieder. Mehrere Corona-Hotspots und die Urlaubszeit lassen die Angst vor der berüchtigten 2. Welle aufflackern und niemand weiß, wie sich die Lage entwickelt. Ganz sicher werden Maskenpflicht und Abstandsregeln uns noch länger begleiten.
Trotzdem fragen wir in dieser Nummer danach, was uns die Krise lehrt. Und auf den folgenden Seiten finden Sie Impulse, die in die Zukunft weisen, darauf, was wir aus dieser Zeit mitnehmen sollten.
Aber: Ganz sicher ist das kein abschließendes Fazit! Und: Wir wollen die Lage damit keinesfalls schönreden!
Das wäre blanker Hohn angesichts von weltweit 706 342 Toten (Stand: 6. August). Wir sind es ihnen schuldig, dafür zu sorgen, dass die schrecklichen Bilder von Särgen in Turnhallen, Massengräbern und auf Fluren scheinbar achtlos abgestellten Betten in überfüllten Krankenhäusern nicht in Vergessenheit geraten. Schon lange nicht mehr hatten wir die Endlichkeit des Lebens so eindrücklich vor Augen! Ein Thema, das wahrlich nicht neu ist, mit dem wir uns aber in unseren Gesellschaften doch schwertun. Allzu leicht mach(t)en wir uns vor, dass wir das Leben – und den Tod – im Griff haben.
Es wäre naiv, die negativen Auswirkungen auszublenden. Soziale und psychische Folgen der Pandemie sind  noch nicht absehbar. Studien machen schon jetzt Anzeichen dafür aus, dass Kinder und Jugendliche Zukunftsängste entwickelten. Was Einsamkeit, fehlende soziale Kontakte mittel- und langfristig mit Alten, Kindern und Jugendlichen, Alleinstehenden machen, bleibt abzuwarten.  Kinderschutzverbände und Sozialinstitutionen mahnen schon seit Monaten: Wochenlang mussten nicht nur, aber vor allem sozial schwächer gestellte Familien mit mehreren Personen beengt leben, wohnen, arbeiten, spielen; für notwendige Freiräume war da oft kein Platz. Spannungen, Konflikte und auch häusliche Gewalt nahmen zu.
Und sicher hat das Arbeiten im Homeoffice oft besser funktioniert, als viele vermutet hatten; aber was die Kombination von Homeoffice, Kinderbetreuung und Homeschooling für alle Beteiligten bedeutet hat, wie belastend sie vor allem für Frauen war, können wir bisher nur vermuten. Manches alte Rollenmuster ist dabei wohl auch wieder aufgebrochen – und das ist weder für Frauen noch für Männer gut.

Illustration: © moonnoon (iStock; bearbeitet von elfgenpick)

Wir lebten und leben in einer Ausnahmesituation. Es gab keine Modelle. Schritt für Schritt mussten wir uns vorantasten. Unsicherheit und Komplexität der Situation haben den Boden dafür bereitet, dass Verschwörungstheorien aufblühen konnten. Das Gefühl der Ohnmacht vieler verunsicherter und besorgter Menschen und das fehlende Vertrauen in Autoritäten nutzen populistische Gruppen teilweise schamlos aus; unheilvolle Bündnisse entstehen. Sie treiben Keile in unser Gesellschaftsgefüge.
Und es wäre realitätsfremd, die Ängste all derer nicht wahr- und ernstzunehmen, die durch den Lockdown einen bedrohlichen wirtschaftlichen Einschnitt erleben, um ihre Existenz fürchten oder noch lange Durststrecken vor sich haben: Existenzgründer, kleine, mittelständische und große Betriebe aus allen Sparten, Arbeitnehmer*innen, die nach wochenlanger Kurzarbeit vielleicht sogar Kündigungen befürchten, Künstler*innen und kulturelle Einrichtungen. Die Wirtschaft ächzt und Fachleute sehen im Herbst eine Welle privater Insolvenzen auf uns zukommen.
Das Virus hat deutlich gemacht: Wir sind verletzlich – als Einzelne, als Gemeinschaften und als Staaten. Alle, auch die Industrienationen. Keiner kann und konnte Covid-19 entkommen. Unter den negativen Auswirkungen leiden jedoch vor allem sozial Schwache, Randgruppen, Länder, denen es ohnehin nicht gut geht. Wer eine starke Lobby hat, kann auf Unterstützung hoffen. Wo die fehlt, zeichnen sich schon jetzt die Verlierer der Krise ab.
Auch Kirche konnte der Pandemie nicht entgehen. Hat sie sich genügend zu Wort gemeldet? Trost und Nähe vermittelt? Was macht religiöses Leben aus, wenn Gottesdienste und Veranstaltungen gestrichen werden? Wo braucht es neue Formen, gemeinschaftlich Glauben zu leben, zu erfahren und auch zu bezeugen? Was unterscheidet den Online- vom Gemeinde-Gottesdienst? Und wenn viele gar keinen Unterschied wahrnehmen, woran liegt das? So nur einige der im Raum stehenden Fragen. – Aber auch hier hat die Krise nur das schonungslos offengelegt, was ohnehin an Problemanzeigen vorhanden war. Sie hat jedoch auch gezeigt, dass religiöses Leben nicht nur vom Sonntagsgottesdienst abhängt; dass Kirche, dass Gott auch in Familien, Hausgemeinschaften, Nachbarschaften da und erfahrbar ist. Kommunion – Gemeinschaft – ist nicht eindimensional. Dort, wo Leben geteilt, wo gemeinsam gesucht und gerungen, wo das Evangelium und die Beziehung zu Gott und zum Nächsten in den Mittelpunkt gestellt wird, da ist Gemeinschaft, da ist Gott, da ist Kirche.
Manche Kommentatoren bezeichnen die Krise als „Brennglas“. Sie stellt uns Potenziale (auch unerwartete) und Mängel (an die wir uns teilweise schon zu sehr gewöhnt hatten) überdeutlich vor Augen. Beides ist gut! Nur wenn wir alles zusammenbringen, werden wir einen immer realistischeren und vollständigeren Blick aufs Ganze bekommen.
Das ist ein Weg. Und wir sind gerade am Anfang. Die Beiträge der folgenden Seiten wollen Anregungen liefern, miteinander ins Gespräch zu kommen. Sicher braucht es auch weiterhin viel Geduld, Engagement, Zuversicht. Und den Mut einzugestehen, dass wir einander brauchen. Die Wahrheit ist ja nie eindimensional, und keiner kann sie allein verstehen.
Gabi Ballweg

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September/Oktober 2020)
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