3. Februar 2021

Tiefere Wurzeln

Von nst5

Was für ein Jahr! – Während ich diese Zeilen schreibe, stehen die Jahresrückblicke noch aus, und wenn Sie diese Zeilen lesen, haben Sie wahrscheinlich mehr als genug davon gesehen und gehört; die meisten hatten wohl einen ähnlichen Tenor.

Corona hat uns ganz schön durcheinandergewirbelt. Persönlich, gesellschaftlich, politisch, kirchlich. Wir haben das Leben doch nicht so im Griff, wie wir oft meinen. Das ist zumindest für mich eine der wichtigsten Lehren dieser Zeit. Und: Wie wichtig dann die Verwurzelung ist! Was trägt mich? Wie leicht und wovon werde ich aus der Bahn geworfen?
Nun gehöre ich eher zu denjenigen, die es gern harmonisch haben. Unangenehmen Themen stelle ich mich nicht so gern. Ich habe im Lauf meines Lebens – so will ich mir gern einreden – gelernt, sie schneller anzuschauen. Trotzdem hätte ich mir zum Start in das neue Jahr in dieser Ausgabe „schönere“ Themen vorstellen können als Verschwörungsmythen und Geistlichen Missbrauch. Vielleicht geht es Ihnen ja auch so.

Bild: (c) PeterHermesFurian/iStock

Als wir uns entschlossen, das Thema Geistlicher Missbrauch aufzugreifen, war uns klar, dass es nicht nur andere, sondern auch uns in der Fokolar-Bewegung betrifft. Dass es Nachdenken auslösen, Fragen aufwerfen, unverdaute Erfahrungen wachrufen und zu Unsicherheiten führen kann. Die Arbeit an der Nummer war auch für uns eine Herausforderung.
Die Gefahren der gemeinschaftlichen Spiritualität anzuschauen, die wir leben, war aufwühlend. Manchmal ging ich mit einer gewissen Unruhe oder zumindest offenen Fragen aus den Gesprächen. Das zuzulassen, es auszuhalten, mich dem zu stellen und ihm auf den Grund zu gehen, hat mir dann aber geholfen, mir den Reichtum dieser Spiritualität neu bewusst zu machen. Ich würde sagen: tiefere Wurzeln darin zu schlagen.
Das war und ist ein Weg – in mir, aber auch in den gemeinschaftlichen Gefügen, in denen ich lebe. Das braucht Zeit und Achtsamkeit und es lebt aus genau jenem Spannungsverhältnis, in das Corona uns so eindringlich hineingestellt hat: die Spannung zwischen Einsamkeit/Innerlichkeit einerseits und Beziehung/Weggemeinschaft andererseits. Diese Spannung ganz bewusst zu leben, bedeutet wohl auch, darin zu reifen.
Ich wünsche mir und Ihnen, dass alles, was dieses neue Jahr uns bringen wird, letztlich vor allem ein Anlass dafür ist, uns innerlich gut zu verwurzeln und von da aus Begegnung zu leben – und uns diese Begegnung wieder zu neuer Innerlichkeit führt. Und ich hoffe, dass auch die Themen dieser Ausgabe – wie schön oder schwer sie auf den ersten Blick auch scheinen – letztlich dazu beitragen.
In diesem Sinn wünschen wir von der Redaktion Ihnen ein gutes Jahr 2021,

Ihre
Gabi Ballweg

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(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2021)
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