4. Februar 2022

Kaiserreich statt Kommunismus

Von nst5

Unser Bild von China

muss dringend um historische und kulturelle Kenntnisse erweitert werden. Sonst werden wir das „Land der Mitte“ nie verstehen.

Am 1. Juli 1997 erfolgte die Übergabe der britischen Kronkolonie Hongkong an die Volksrepublik China. Für die Zeremonie wurde ein schickes, modernes Gebäude errichtet, das „Hong Kong Convention and Exhibition Centre“. So konnten beide Seiten ihr Gesicht wahren: Die Briten konnten zeigen, wie großartig sie ihre Kolonie verwaltet hatten, und die Chinesen ein Gebäude übernehmen, das ihrer ultramodernen Städteplanung entsprach.
Dieser geschichtsträchtige Tag fiel in die 23 Jahre, in denen ich in Hongkong gelebt und dabei viele Reisen in die Volksrepublik gemacht habe. Mir scheint, dass sich an diesem Tag das Beziehungsproblem verdichtet hat, das zwischen dem Westen (Europa und die USA) und der Volksrepublik China besteht. Kurz zusammengefasst: ein großspuriges Lächeln des Westens im Bewusstsein, große Errungenschaften nach China gebracht zu haben; und ein genugtuendes Lächeln auf chinesischer Seite, aus dem man herauslesen konnte, dass jetzt sie am längeren Hebel sitzen. Tatsächlich hat die Vereinbarung über die Zukunft von Hongkong, die auf 50 Jahre ausgelegt war, nur 23 Jahre gehalten. Formell ist die „Minikonstitution“ für Hongkong immer noch gültig, die eine demokratische Grundordnung für die Sonderverwaltungszone garantieren sollte. Aber am 30. Juni 2020 trat das vom Volkskongress in Peking verabschiedete „Sicherheitsgesetz“ in Kraft, das der Volksrepublik erlaubt, praktisch uneingeschränkt in das politische und gesellschaftliche Leben Hongkongs einzugreifen.
China besteht nicht nur aus der Volksrepublik und dem kleinen Anhängsel Hongkong. Dazu gehören auch Macau und Taiwan. „Chinese-Sein“ ist das verbindende Element im Lebensgefühl der Bevölkerung in allen Teilen Chinas und gipfelt in der Überzeugung, dass es nur ein China gibt. In diesem Punkt sind sich selbst die kommunistische Partei in der Volksrepublik und die Guomindang Partei in Taiwan einig.
Als ich mich, um die Chinesen besser zu verstehen, näher mit ihrer Kultur und ihrer Geschichte befasst habe, ist mir aufgefallen, dass für sie die Ereignisse des 19. Jahrhunderts noch längst nicht Geschichte sind. Es geht um die Zeitspanne, die mit den Opium-Kriegen (1839-60) begonnen und über den sogenannten Boxeraufstand (1899-1901) bis zum Niedergang der Qing-Dynastie (1911) gedauert hat: die Kolonisation Chinas durch Europa. Um die negative Handelsbilanz mit China auszugleichen, haben die Briten damals tonnenweise Opium nach China verkauft. Als sich wegen der verheerenden Folgen Widerstand bildete, provozierte Großbritannien einen Krieg, den es (mit seinen Partnern) nur gewinnen konnte. Zu groß war die militärische Überlegenheit. Als „Kriegsentschädigung“ wurden längs der chinesischen Ostküste westliche Einflussbereiche geschaffen – Kanton, Hongkong, Shanghai, Tientsin – in denen die chinesische Administration nichts mehr zu sagen hatte. Von diesen Zonen aus wurde massiv Einfluss auf das Hinterland genommen.

Politische Demütigung
Unglücklicherweise haben die Kirchen diese Situation ausgenutzt, um zu missionieren. Es hat zwar viele Missionare gegeben, denen die Glaubensverbreitung durch menschliche Beziehungen ein Herzensanliegen war, wie etwa der Südtiroler Pater Freinademetz oder der Belgier Pater Lebe. Aber viele kirchliche Einrichtungen wurden politisch durchgesetzt. Die Chinesen sind religiös sehr tolerant und nehmen Unterschiede zwischen ihren Religionen – Taoismus, Konfuzianismus, Buddhismus – ganz anders wahr als wir Europäer. Aber dass sich das Christentum unter politischen Einfluss ausgebreitet hat, sitzt im Bewusstsein der chinesischen Bevölkerung genauso tief wie die politische Demütigung. Das sollte man wissen, wenn die Verhandlungen zwischen Vatikan und chinesischer Regierung so schleppend vorangehen. Es geht nicht so sehr um abstrakte Prinzipien, sondern um schmerzliche Erfahrungen, die nur durch ein ehrliches Verhalten geheilt werden können. Und das braucht Zeit.

Illustration: (c) iStock (Tamagocha, bearbeitet von elfgenpick)

Die Demütigung Chinas im 19. Jahrhundert hat noch einen anderen Effekt: In der Regel haben die Chinesen eine hohe Achtung vor den europäischen Ländern. Nach den Erfahrungen des 19. Jahrhunderts hat sich etwas entwickelt, was man als „Konkurrenz-Liebe“ bezeichnen könnte. China möchte vom „Westen“ lernen. Aber man möchte auch zeigen, dass man es genauso gut und womöglich besser und schneller kann. Da von diesem Wunsch nach Geltung nicht nur die Entscheidungsträger erfüllt sind, sondern weite Teile des Volkes, werden wir diesem Expansionsdrang nicht mit wirtschaftlichen oder politischen Maßnahmen erfolgreich begegnen können, sondern nur durch eine ehrliche Auseinandersetzung mit seinen historischen Wurzeln.
Ein anderes Phänomen, das die Beziehungen nachhaltig beeinflusst, ist die Überzeugung des Westens, dass in China ein kommunistisches Regime herrscht. Aber stimmt das? Seit den 1980er-Jahren gibt es de facto keine kommunistische Politik mehr. Was geblieben ist, ist die Partei. Sie zählt 90 Millionen Mitglieder und bildet die Machtstruktur, um ein solch riesiges politisches Gebilde zusammenzuhalten und zu leiten.

Land der Mitte
Vermutlich hält der Westen so hartnäckig an der Klassifizierung Chinas als einem kommunistischen Land fest, weil einfache Erklärungen so verführerisch sind. Wenn China ein kommunistisches Land ist, lassen sich damit alle negativen Aspekte erklären, und man braucht sich nicht mehr ernstlich mit ihnen zu beschäftigen. Dabei wäre das so wichtig, denn es handelt sich zwischen China und dem Westen nicht um eine ideologische Auseinandersetzung, sondern vielmehr um eine kulturelle. Der Zentralismus ist in China nicht durch den Kommunismus eingeführt worden; er ist eine Praxis, die von Kaiserreich zu Kaiserreich vererbt wurde. Die damit verbundene Kontrolle genauso; sie existiert seit vielen Jahrhunderten und wird deshalb von vielen im Volk (noch) als ziemlich normal angesehen.
Ein weiteres Thema ist die Korruption. Zwischen unzulässiger Korruption und sozialen Beziehungen zu unterscheiden, ist aber nicht immer ganz einfach. Beziehungen sind sehr wichtig in China. Und Beziehungen pflegt man mit Geschenken.
Der Banyan-Baum hat Luftwurzeln, die von den Astenden herunterwachsen. Wenn sie den Boden berühren, entwickeln sie sich darin weiter. Aus dem luftigen dünnen Wurzelgebilde bildet sich ein Stamm und schließlich ein Baum. Er erscheint eigenständig, ist aber vital mit dem ersten Baum verbunden. Letztlich ist dieser große Wald ein einziger Baum. Die chinesische Gesellschaft sei mit so einem Banyan-Wald vergleichbar, meinte der Schriftsteller Lin Yutang. Jeder ist mit jedem verbunden. Wer intelligent und energisch genug ist, kann Zugang zu allen Schichten der Gesellschaft finden, bis hinauf zu den höchsten Verwaltungsposten.
Die beiden Schriftzeichen für China bedeuten wörtlich „das Land der Mitte“. Das mag befremdlich oder gar überheblich klingen. Aber halten sich nicht viele Länder für den Mittelpunkt der Welt? Ich bin überzeugt: In Zukunft wird kein einzelnes Land die Mitte der Welt bilden können. Mitte kann da sein, wo ehrliche Beziehungen zwischen Völkern aufgebaut werden.
Manfried Kögler

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2022)
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