2. Februar 2022

Nach den Fluten

Von nst5

Im Juli 2021 haben Hochwasser

den Westen Deutschlands mit großer Wucht getroffen.
Wie erging es den Menschen? Was hat sich seitdem getan? Wir haben bei Flutopfern und Helfern nachgefragt.*

„Wir können wieder im Erdgeschoss wohnen. Der Flur ist noch nicht gestrichen und die Treppe zum Keller fehlt noch. Aber die Lage normalisiert sich langsam“, erzählt Achim Jülich aus Rheinbach, 20 Kilometer von Bonn. Nach den Überschwemmungen in der 27 000-Einwohner-Stadt hat er mit seiner Familie über drei Monate im Ausnahmezustand gelebt. Am 14. Juli war er noch im Büro in Bonn. Als gegen 17 Uhr seine Frau anrief, sie wolle den Nachbarn die Pumpe leihen, weil bei ihnen Regenwasser in den Keller lief, ahnte er noch nichts Böses. Auf dem Heimweg jedoch überschlugen sich die Nachrichten von seiner Frau: „Der Strom ist weg. Die Pumpe auszuleihen hat sich erübrigt.“ – „Jetzt läuft das Wasser auch in unser Haus!“ – „Die Tür ist geborsten!“ – „Das Wasser kommt durch die Wand!“

Alle Fotos: privat

Der sonst unscheinbare Rodderbach war über die Ufer getreten. Zudem flossen von einer nahegelegenen Kaserne und einer Umgehungsstraße Regenmassen in ihr Wohngebiet. „Rechts und links strömte es an unsrem Haus vorbei, floss aber auch in einen Schacht, drückte ein Fenster auf und lief in den Keller.“ Bis 22 Uhr stieg das Wasser. Der Keller lief voll bis zur Decke, selbst im Erdgeschoss stand es 10 bis 15 Zentimeter hoch.
Beate und Willi Holstein waren im Urlaub an der Nordsee, als sie erfuhren, dass das Hochwasser auch ihr Haus in Sinzig an der Ahr getroffen hatte, 25 Kilometer südlich von Bonn. Fast fünfzig Jahre leben sie schon dort. „Es ist nur noch wenig so, wie es war“, erzählt Beate. Ihre Hühner und drei Bienenvölker ertranken in den Fluten. Obwohl das schon Monate her ist, fühlt sich Beate noch unbehaust: „Die nackten Wände starren mich an. Bis das Haus wieder Heimat wird, braucht es unendlich viel Geduld!“

Dass das kleine Flüsschen Ahr dermaßen über die Ufer treten konnte, hatte niemand für möglich gehalten. Die unbändige Strömung spülte 20 von 23 Brücken weg und riss Menschen in den Tod, auch eine ehemalige Kollegin von Beate. Am 13./14. Juli fielen im Einzugsgebiet der Hochwasserflüsse rund 150 Millimeter Niederschlag pro Quadratmeter, in zwei Tagen mehr als sonst in vier Monaten. Eine Ursache für dieZunahme von Hochwasserkatastrophen in den letzten Jahrzehnten ist der Klimawandel. Aber auch das Zubetonieren von Flächen trägt dazu bei. Es erschwert, dass Regen in den Boden eindringen kann.

Uli Greber ist als Notfallseelsorger der Diözese Aachen vielen verzweifelten Flutopfern begegnet. Zwei Wochen lang war er nach der Katastrophe in Stolberg und Eschweiler im Einsatz. Die meisten Menschen wurden zwar hart von der Flut getroffen, konnten sich aber irgendwie helfen oder zumindest ihre Bedürfnisse ausdrücken, hat Greber beobachtet. Andere hingegen, vor allem ältere, waren völlig überfordert. Sie hatten noch gar nicht verkraftet, dass ihr Haus verwüstet war, als hochmotivierte junge Helfer schon alles herausschleppten, was nass geworden war, und auf den Müll warfen. „Diese Menschen hatten das Gefühl, ihr ganzes Leben werde entsorgt“, so Greber. „Sie schlossen sich ein und wollten keinen mehr sehen.“
Ein Mann, dessen Haus überschwemmt war, hatte erst am Vortag den Kaufvertrag unterschrieben und sich dabei hoch verschuldet. Von der Feuerwehr hatte er ein Trocknungsgerät bekommen, konnte aber den Strom dafür nicht mehr zahlen. Allein hatte er stundenlang erfolglos versucht, den kaputten Boden herauszustemmen. „Ich bat die Einsatzzentrale, fünf Helfer zu schicken“, erzählt Greber. „Aus Spendenmitteln konnte ich ihm 100 Euro geben, damit er zumindest die Stromrechnung begleichen konnte. Ich war froh, den Verzweifelten in diesen Tagen etwas Hoffnung geben zu können.“
Eine Frau vertraute Uli Greber an, dass ihr Mann letztes Jahr auf die Intensivstation gekommen war. Sie hatte ihm versprochen, ihn zu Hause sterben zu lassen. Doch dann kam Corona. Nicht einmal mehr besuchen durfte sie ihn. Er starb allein. Alles, was sie an ihren Mann erinnerte, war nun dem Wasser zum Opfer gefallen.
Schicksale, Lebensbeichten, Fragen nach Gott, Verzweiflung: Das geht an die Nieren. „Es ist schon schwer, ein solches Gespräch zu führen, aber fünf Stunden eines nach dem anderen…“ Uli Greber wusste nie, welche Geschichten und Gefühle ihn im nächsten Haus erwarteten: „Nach den zwei Wochen war ich selbst am Ende!“

In den Fluten ertranken in Deutschland mindestens 184, im angrenzenden Belgien 41 Menschen. Der materielle Schaden geht in die Milliarden. Holsteins und Jülichs haben von mehreren Seiten finanzielle Unterstützung bekommen: aus Spendengeldern, von Freunden und Verwandten, über die Fokolar-Bewegung, der sie angehören. Geld anzunehmen, sei nicht leicht gewesen, bekennt Achim Jülich: „Es hat mich beschämt!“
Besonders dankbar sind Holsteins und Jülichs für die vielen ehrenamtlichen Helfer. „Wildfremde Leute haben mit angepackt“, berichtet Beate Holstein. Menschen, die sich nur vom Sehen kannten, rückten zusammen. „Meine gesamte Kleidung war unbrauchbar. Eine Nachbarin brachte mir eine Trainingshose von ihrem Freund“, erzählt Achim Jülich, „ein Nachbar hat meinen Stromgenerator repariert, ein anderer ist selbstlos in einen Schacht mit stinkendem Wasser gestiegen, um die Wasserpumpe wieder in Gang zu setzen.“ Sowohl Jülichs als auch Holsteins sind mit Inhaber und Mitarbeitern der Firma Frings in Rheinbreitbach befreundet, einem Heizungs- und Sanitär-Betrieb. Ihre Freunde sorgten dafür, dass sie eine neue Gasheizung bekamen und bald wieder warmes Wasser hatten.

Die Flutgeschädigten schauen mit Bangen nach vorn: Wird zum Schutz vor künftigen Hochwassern genug getan? In Rheinbach hat eine Bürgerinitiative Vorschläge erarbeitet, mit denen sich die Stadt gegen künftige Hochwasser besser wappnen könnte, weiß Achim Jülich. Dazu gehören kurzfristig die Einrichtung von Sandsack-Depots, mittelfristig die Verbesserung der Wasserabführung und langfristig der Bau von Regenrückhaltebecken.

Das Bundesland Nordrhein-Westfalen empfiehlt Kommunen, Flächen auszuweisen, die Wassermassen aufnehmen und verzögert ableiten können. Moore sollen geschützt oder wiederhergestellt, die Kanalisation aufgerüstet werden. Mehr Pflanzen sollen zum Einsatz kommen, die Wasser aufnehmen und das Stadtklima abkühlen. Wälder sollen anstelle von Monokulturen mit klimaresistenteren Mischbeständen aufgeforstet werden. Wie schnell und wie stark sich die Maßnahmen auswirken, bleibt allerdings offen.

Unterdessen kämpfen die Opfer der Flut vom Juli 2021 weiter. „Sie hat uns aus dem Leben, wie wir es bisher kannten, herausgerissen“, bringt es Beate Holstein auf den Punkt. Uli Greber hat öfter zu hören bekommen: „Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Aber ich bin froh, dass wir unser Leben retten konnten.“ Ein Mann, der schon Jahrzehnte in seinem Ort lebt, beklagte, dass sich viele Einwohner kaum kannten. „Dann kam das Hochwasser und traf jeden. Aber keiner hat auf sich geschaut, sondern alle haben geholfen, wo die Not am größten war.“ Dieser Herr ist nicht reich, hat sich aber vorgenommen: „Wenn das Schlimmste vorbei ist, richte ich ein Nachbarschaftsfest aus! Denn die neue Gemeinschaft unter uns wollen wir nicht wieder verlieren.“
Clemens Behr

Hochwasser und Klimadaten
In Deutschland betrug der Anstieg der Jahresdurchschnittstemperatur zwischen 1881 und 2018 1,5 Grad. Die Niederschlagsmenge pro Jahr stieg zwischen 1901 und 2007 von 735 auf 800 Millimeter. Im Winter betrug das Plus sogar 28 Prozent. Großwetterlagen, die Starkniederschläge begünstigen, gibt es ebenfalls deutlich häufiger: 1951 waren es im Winter 36 Tage, 2001 64 Tage. Im Sommer stieg die Zahl von 22 auf 51 Tage.
Weltweit stieg die Dauer von Hochwassern seit den 1980er-Jahren von durchschnittlich vier auf zehn Tage an. Die Dauer extrem langer Hochwasser wuchs sogar von 20 auf 30 Tage. Die meisten Hochwasser gab es in den USA (388 von 1985-2015), China (344), Indien (226), Indonesien (190) und auf den Philippinen (181). In Europa war Frankreich (40) das stärkst betroffene Land.
Quelle: www.bildungsserver.de, Stichwort/Suchbegriff: Klimawandel

* Eine ausführlichere Version dieses Artikels in Englisch ist Teil vom „Inclusive Economy Report“, einer gemeinsamen Veröffentlichung von NEUE STADT-Redaktionen vieler Länder. www.nuovaglobal.org

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2022)
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