2. Dezember 2022

Pflege in Not!

Von nst5

Immer mehr Pflegebedürftige und kein Personal.

Was kommt noch auf uns zu? Gibt es einen Ausweg? Was müsste sich ändern? Fragen an die Pflege-Expertin Katarina Planer.

Frau Planer, es fehlen Pflegekräfte. Gibt es einen Bereich, den die Personalnot besonders trifft?
Ob die ambulante Pflege stärker leidet als die stationäre Langzeitpflege oder die Pflege in den Kliniken, wissen wir nicht. Dazwischen unterscheidet die Statistik nicht. Sicher ist aber, dass alle Bereiche ein Personalproblem haben.

Welche Folgen hat das für die Pflegebedürftigen?
Menschen werden mit Pflegebedarf aus einer Klinik entlassen, ihre Angehörigen finden aber keinen Pflegedienst, der sie versorgen kann. Dann müssen sie überlegen, wie sie das selbst stemmen. In stationären Einrichtungen ist die Folge, dass die Bedürfnisse der zu Pflegenden nicht befriedigt werden können. Im besten Fall schafft es das Personal trotzdem, dass sie keinen körperlichen Schaden nehmen. In der Corona-Pandemie haben wir gesehen, dass Isolation die Menschen sozial und psychisch schädigt. Sie bekommen genug zu essen und zu trinken, aber man beschäftigt sich zu wenig mit ihnen, fördert und mobilisiert sie zu wenig.

Worunter leidet das Pflegepersonal vor allem?
In den stationären Langzeitpflegeeinrichtungen hat mindestens die Hälfte der Mitarbeitenden eine Pflegeausbildung, in den Kliniken und ambulanten Pflegediensten sind deutlich mehr als die Hälfte examinierte Pflegefachpersonen. Sie haben einen gewissen Anspruch, wissen, was gute Pflege ausmacht, würden das auch gern umsetzen, erleben aber jeden Tag, dass die Rahmenbedingungen es nicht zulassen. Die Pflegekräfte können sich nicht ausreichend um die einzelne Person kümmern. Aus der Forschung wissen wir: Das ist ein wesentlicher Grund dafür, den Beruf aufzugeben.

Unsere Gesellschaft wird im Durchschnitt immer älter; der Pflegebedarf steigt also weiter. Welches Szenario erwartet uns?
Manche Frauen und Männer mittleren Alters fragen sich, wie sie für später vorsorgen können. Vielen ist klar, dass niemand mehr für sie da sein wird. Sie können Wohngemeinschaften bilden, in denen sie sich einmal gegenseitig umeinander kümmern. Kommunen überlegen, wie sie zukunftsfest werden können – mit Einrichtungen für betreutes Wohnen oder indem sie kleine Lebensmittelläden am Leben erhalten. Diese Entwicklungen gehen in die richtige Richtung.
Andererseits scheint mir, dass man sich auf Landes- und Bundesebene noch viel zu wenig Sorgen macht. Man schafft es ja nicht einmal, die Missstände von heute abzustellen. Geschweige denn weiterzudenken: Wie können wir in zehn Jahren eine bessere Situation haben? Ich sehe wenig Bestreben, das anzugehen. Der Anspruch auf pflegerische Unterstützungsleistungen lässt sich heute schon nicht einlösen und in zehn, zwanzig Jahren erst recht nicht. Daher brauchen wir Konzepte, Ideen, wie wir wenigstens die Leute, die den höchsten Bedarf und die geringste soziale Abfederung haben, versorgen können.

Das ist ja kein Randproblem; es trifft einen ganz großen Teil unserer Gesellschaft. Wie kommt es, dass viele Menschen sich darüber nur unzureichend Gedanken machen?
Die Frage treibt mich schon lange um. Eine These ist: Das Thema ist so komplex, dass ich mir als Einzelner keine Lösung vorstellen kann. Eine andere: Wenn das Problem nicht mehr so akut ist, weil mein pflegebedürftiger Vater verstorben ist oder meine Mutter einen Heimpflegeplatz gefunden hat, wird es schnell wieder verdrängt. Wir setzen uns nur ungern mit dem Tod, dem Altern und unserer Pflegebedürftigkeit auseinander. Das hält uns davon ab, das Thema ernsthaft und gründlich anzupacken. Wir denken: Mich betrifft es im Moment nicht, daher interessiert es mich nicht. Und sobald es mich wieder interessiert, bin ich empört. Empörung dann in Engagement umzuwandeln, würde nur funktionieren, wenn man eine Idee hat. Aber die Situation ist komplex und verfahren; das System geht seit zwanzig Jahren in die falsche Richtung. Das jetzt in ein oder zwei Jahren zu drehen, ist unmöglich.
Ein weiterer Aspekt: Wir schauen heute alles nur durch die Brille der Wirtschaftlichkeit an. Wir fragen nicht: Wie machen wir Pflege menschlicher? Oder attraktiver für die Pflegenden? Klar, die Arbeitsbedingungen müssen sich verbessern, das kostet. Und das wollen wir uns eigentlich nicht leisten. Aus dem Blickwinkel der Ökonomie gibt es keine kurzfristigen, keine bezahlbaren Lösungen, und damit ist es ein scheinbar unlösbares Problem. Daher blenden wir es aus.

Foto: (c) FilippoBacci (iStock)

Eine Pflegereform jagt die andere, aber hat sich dadurch etwas verbessert?
Was ist denn eine Verbesserung? Die Pflegenden würden sagen: wenn wir an unserer Arbeitssituation mitgestalten könnten. Aber wer über die Pflegebedingungen entscheidet, sind Mediziner und Ökonomen. Politiker beraten sich vor allem mit Medizinern. Auf Bundesebene sind in keinem Expertenbeirat Pflegepraktiker oder -wissenschaftler vertreten. Dabei müsste doch jedem klar sein, dass Pflegende am besten wissen, was gut für sie ist, was man tun müsste, um die Bedingungen arbeitswerter, lebenswerter zu gestalten, die Qualität zu verbessern. Der Berufsgruppe Mitgestaltung zuzugestehen, ist nirgends vorgesehen: weder im GKV-Spitzenverband, der zentralen Interessenvertretung der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen in Deutschland, noch in den Ministerien. Alle möglichen Berufsgruppen haben Kammern, die ihr Berufsbild, ihre Weiterbildungsstandards, ihre Regeln eigenständig bestimmen, aber über Pflegekammern wird seit Jahren nur diskutiert. Bundesländer haben Landespflegekammern auf den Weg gebracht, die aber wieder abgeschafft wurden, weil es Widerstände gab. Dem Pflegepersonal Letzt- und Eigenverantwortung zu übertragen, wird durch Mediziner strukturell verhindert, weil es bedeuten würde, dass sich auch für sie dramatisch viel ändern müsste. Deutschland hat als weltweit letztes Land keine akademische Qualifikation in der Pflege! Überall hat Pflege einen besseren Status in der Ausbildung und im Studium und damit auch andere Zugänge zu Politik, Gesetzgebung, Selbstverwaltung. Und wir erheben uns über andere Länder, wie rückständig sie seien!

Was können Pflegekräfte tun, um ihre Situation zu verbessern?
Viele haben bereits vieles versucht und dann aufgegeben. Sie haben sich für eine Pflegekammer engagiert, in einer Gewerkschaft organisiert oder mit Trägerorganisationen auseinandergesetzt, aber vergeblich. Wohlfahrtsverbände, auch die kirchlichen, die eigentlich klare Werte haben, was gute Pflege ist, knicken offensichtlich in den Konsensfindungsprozessen mit den Ministerien ein und stimmen Vereinbarungen und Regelungen zu, die eine gute Pflege verhindern. Wir haben in Deutschland menschenunwürdige Zustände in Pflegeeinrichtungen, sagt zum Beispiel der UN-Sozialrat schon das dritte Jahr in Folge. Und es sieht nicht so aus, als würde sich das in absehbarer Zeit ändern. So wundert es nicht, dass Pflegekräfte in Jobs wechseln, wo sie dem Druck und dem Frust nicht ausgesetzt sind.

Es bräuchte eine grundsätzlich andere Sicht auf die Pflege. Wie könnte die aussehen?
Die Gesellschaft müsste auf allen Ebenen von der Sorge um das Thema durchdrungen werden. Angefangen bei der Schule, indem Gesundheit und Pflege in den Unterricht einbezogen wird. Was an Pflegebedürftigkeit auf uns zukommt, werden wir nicht an Professionelle delegieren können, weil es nicht mehr genug gibt. Selbst wenn wir uns für Einwanderer aus Afrika, Asien, Lateinamerika öffneten, würde es Jahre dauern, bis sie hier Menschen pflegen könnten. Ein anderer Ansatz wäre, dass es normal wird, nicht nur seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern nebenher auch ein soziales Amt zu übernehmen. Einer fährt Schulbus, weil es keine Busfahrer mehr gibt; jemand in München kümmert sich um seine pflegebedürftige Nachbarin, während die eigene Mutter in Hamburg von deren Nachbarin betreut wird. Vielleicht brauchen wir eine Mischung aus Einwanderung und solchem sozialen Engagement. Aber das würde eine radikale Mentalitätsänderung erfordern!
Andererseits bricht das System ja heute schon zusammen: Jedes Mal, wenn eine pflegebedürftige Person, die zur Toilette muss, klingelt, aber keiner kommt. Oder die sich nicht mehr bewegen kann, umgelagert werden müsste, Druckgeschwüre bekommt und 14 Tage später an den Wunden stirbt, weil sie nicht angemessen gepflegt werden kann.
Im Kern geht es um die Fragen: Wie sozial ist unsere Gesellschaft? Wie lebenswert ist das Leben, wenn wir nicht mehr selbstständig sind? Die Menschen, die wirklich abhängig sind und sich kaum an den Debatten beteiligen können, haben wir völlig aus dem Blick verloren. Aber damit ist das Problem nicht vom Tisch. Menschen leiden weiter, sterben, in unseren Pflegeeinrichtungen: einsam, vernachlässigt, mit den falschen oder zu vielen Medikamenten, mit nicht erkannten Notfallsituationen. Das wird ignoriert. Es fällt uns erst auf, wenn wir selbst betroffen sind. Aber das ist zu spät.

Vielen Dank für das Gespräch
Clemens Behr

Foto: privat

Katarina Planer
lehrt seit 2017 als Professorin Pflege und Pflegemanagement an der Hochschule Esslingen. Sie hat in Freiburg die Ausbildung zur Altenpflegerin gemacht und in Osnabrück und Vallendar studiert. Sie arbeitet auch freiberuflich als Beraterin und Lehrbeauftragte für Altenhilfe-, Pflege- und Bildungseinrichtungen sowie Führungskräfte. Ihre Fachgebiete umfassen Qualitätsmanagement, Pflegebegutachtung und –prozessplanung, Personaleinsatzplanung, Systemische Pflege und standardisierte Methoden der Pflegeforschung.


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, November/Dezember 2022.
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