Versöhnt in die Zukunft
Das Pop-Oratorium „Hagar“
schließt eine biblische Geschichte für die Gegenwart auf.
Auf dem Sklavenmarkt herrscht reges Treiben. Die Händler schieben die Sklavinnen vor sich her, um sie den Käufern anzupreisen. Geschickt wird der Einzug des Chores für diese Szene genutzt, während das Orchester den Auftritt mit der Ouvertüre untermalt. Sara, dargestellt von Anke Blohmann, betritt die Bühne. Sie ist auf der Suche nach einer neuen Sklavin und entscheidet sich für die kleine Hagar (Maria Neubecker beziehungsweise Nina Fischer), die während der Begutachtung durch ihre neue Herrin beginnt, ihr Schicksal zu besingen. Gleich am Beginn des Pop-Oratoriums über Hagar steht ein „Gänsehaut-Moment.“ So jedenfalls beschreibt Chorsängerin Kirsten ihr Gefühl, wenn Hagar „Fremd und allein“ singt.
„Durch ein Buch bin ich auf Hagar gestoßen“, erzählt Bettina M. Bene, Komponistin und Texterin. „Als ich die Geschichte dieser Sklavin und Zweitfrau von Abraham las, die ja in der Bibel und im Koran vorkommt, war ich sehr berührt. Ein so wechselvolles Schicksal, so vergleichbar mit vielen tausend Schicksalen von heute, vor allem von Frauen, aber auch von Kindern, wollte ich durch Musik aufgreifen, es zum Thema, wahrnehmbar machen gegen die Abstumpfung unserer Zeit. Ich sah die Szenen vor mir, als wäre ich vor Ort.“
„Hagar“ ist eine Geschichte, die nicht einfach Vergangenes auf die Bühne bringt, sondern brennende Themen aufgreift: Sklaverei, auch in heutiger Zeit; Leihmutterschaft, eine bittere Möglichkeit für Frauen, ihre Existenz zu sichern; die Not der vielen Flüchtlinge weltweit.
Eine große Zahl von Flüchtlingen war am Tag der Aufführung im Heidelberger Café Talk unter den Zuschauern. Einige von ihnen hatten im Vorfeld sogar eine kleine Choreografie zu einem der Lieder einstudiert. „Auch wenn sie die Worte kaum verstehen, kann ihnen vielleicht die Musik etwas geben. Gerade für sie habe ich meine Musik geschrieben“, betont Bettina, die freiberuflich als Musikerin, Komponistin und Instrumentallehrerin arbeitet.
Schwungvoll wird das Publikum aus der Spannung gerissen, wenn Abraham, dargestellt von B. Free, „Mit meinem Gott spring ich über Mauern“ singt und seinen felsenfesten Glauben an die Verheißung Gottes zum Ausdruck bringt.
Hagar wächst heran, ist ihrer Herrin treu zu Diensten und fühlt sich immer mehr „Zuhause“ bei Abraham und Sara, wie sie es in dem gleichnamigen Lied zum Ausdruck bringt. Die friedvolle Atmosphäre ist abrupt vorbei, als Sara ihre Sklavin Hagar leidenschaftlich auffordert, an ihrer Stelle mit Abraham ein Kind zu zeugen. „Die äußerst spannungsvolle Beziehung der beiden Frauen, ihr jeweiliges Wohl und Wehe bis hin zur Geburt der beiden Söhne hielt uns Betrachter in Atem“, resümierte ein Zuschauer.
In der biblischen Geschichte bringt Hagar Ismael zur Welt und später bekommt auch Sara noch einen Sohn, Isaak. Im Musical treffen sich Isaak und Ismael bei der Beerdigung des Abraham, segnen einander und schauen versöhnt in eine gemeinsame Zukunft auf unterschiedlichen Wegen. „Eine großartige Vision, dass die abrahamitischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – sich gegenseitig segnen und damit zu ihrem Ursprung, zum Gott der Liebe zurückfinden,“ so ein Zuschauer. „Die Story und die abwechslungsreichen Lieder haben mich begeistert. Ich liebe es in andere Rollen zu schlüpfen und mich ganz in die Person hineinfühlen zu dürfen“, schwärmt Pia Speer von ihrer Rolle als der erwachsenen Hagar.
„Ein bisschen gehadert habe ich damit, wie Sara dargestellt wurde“, merkt Anke an. „Sie kommt ja ein bisschen als die Biestige rüber. Dabei war sie ja auch in Not. Ich habe mit meiner Interpretation versucht, ein bisschen mehr Gefühl hineinzulegen.“
Raum für Eigeninterpretation gab es durchaus, und mit jeder Aufführung identifizierten sich die Solisten mehr und mehr mit ihrer Rolle und hatten einfach auch Spaß dabei, wie zum Beispiel der Percussionist Thorsten Gellings, der sich jedes Mal neue Geräusche einfallen ließ, um Atmosphäre zu schaffen. So schleppte er einen großen Blecheimer an, um mit ohrenbetäubendem Geschepper den Auftritt des Pharaos (Thomas Henze) zu unterstreichen.
Das Format des Oratoriums gibt Menschen Gelegenheit, über sich selbst nachzudenken und sich einzubringen. Es arbeitet nicht mit Kulissen und Kostümen und setzt Requisiten und Bilder – sie stammen von Annemarie Baumgarten – nur sparsam ein. Jeder Zuschauer füllt den so freibleibenden Raum mit eigenen Vorstellungen.
Das Ergebnis kann sich hören und sehen lassen, wie viele Reaktionen aus dem Publikum bestätigen: „Die Geschichte wurde so einfühlsam in Text und Ton umgesetzt. Ich bin ganz ergriffen von dem Schicksal der Einzelnen, das so überzeugend dargestellt wurde. Es wird mich noch lange bewegen.“
Und auch die Mitspieler sind angetan: „Erst während der Aufführungen habe ich die Bedeutung des Inhalts für das eigene Leben entdeckt: immer wieder der Verheißung Gottes zu vertrauen, auch wenn es menschlich oft schwer nachzuvollziehen ist“, meint Barbara.
„Glaubst du nicht an Wunder?“ singen alle gemeinsam zum Schluss, und in gewisser Weise gleicht es einem Wunder, dass die Aufführungen tatsächlich stattfinden konnten. Die Pandemie hat die Erarbeitung extrem erschwert, erinnert sich Stephan: „Es war nicht leicht, bei manchen Proben als einzige Männerstimme da zu sein“. Aber der harte Kern des Chores wuchs durch die Umstände zusammen, und die Qualität des Gesangs verbesserte sich von Mal zu Mal. Das war auch in der Zusammenarbeit mit den Solisten der Fall, weiß B. Free, Sänger und Regisseur, zu berichten.
Dann kam die erste Hauptprobe mit allen (Musik, Chor, Solisten) zusammen und schließlich die Uraufführung: „Es war ein ganz besonderer Moment, das Gesamte in diesem Licht zu erleben, die Musik, der Gesang, die Atmosphäre, vielmehr als ein Einzelner allein hätte erreichen können“, bestätigt Kirsten Edinger, die von Anfang an dabei war.
Etliche aus dem Team arbeiten schon seit der Aufführung des Musicals „Onesimus“ vor acht Jahren mit Bettina zusammen, andere sind im Laufe der Zeit dazugestoßen: „Da sind viele persönliche Beziehungen entstanden, auch mit Menschen, die beruflich im künstlerischen Bereich tätig sind.“
Dass das Miteinander unter den Akteuren stimmte, war bei der Unterschiedlichkeit der Charaktere und der Vielfalt der Ideen im Vorfeld besonders wichtig: „Ich schätze die Menschlichkeit der gesamten Produktion sehr“, unterstreicht Chorsängerin Valerie. „Das ist nicht selbstverständlich und macht so viel Spaß!“
Auch Jona Illius, der als junger Isaak mit seinem großen Bruder Ismael bei einer kleinen Spielszene mit auftritt, freut sich schon auf das nächste Projekt: „Da möchte ich wieder mit dabei sein!“
Maria Kuschel
Hagar
Die Figur der Hagar findet sich in der Bibel und im Koran. Vor fünf Jahren stieß Bettina M. Bene, Komponistin und Texterin des szenischen Pop-Oratoriums „Hagar“, auf ein Buch, das die Geschichte dieser Frau erzählt. Nach zehn Monaten standen Musik und Text. Das Stück ist mit elf Solisten, neun Musikern und einem dreistimmigen Chor aus 15 Personen besetzt. Die ersten Proben fanden im Herbst 2019 statt. Pandemiebedingt konnte die Uraufführung erst am 3. Oktober 2022 in Mannheim stattfinden. Bis Ende November folgten drei weitere in Großsachsen (Bergstraße), Rastatt und in Heidelberg; in Heidelberg fand die Aufführung im „Café Talk“ statt, einem Treffpunkt für Menschen mit und ohne Fluchterfahrung.
www.bettina-m-bene.de
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Januar/Februar 2023.
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