1. Februar 2023

Feines Empfinden für „dicke Luft“

Von nst5

Eltern sind nicht immer einer Meinung

auch nicht in Erziehungsfragen. Sollten sie Meinungsverschiedenheiten – oder gar Streit – im Beisein der Kinder austragen oder lieber nicht? Was sollten sie beachten?

Johannes Wehr
Schulleiter, Memmingen
Wo Menschen zusammenkommen, treffen unterschiedliche Erfahrungen und Bedürfnisse aufeinander; da fliegen auch mal die Fetzen. Streiten Eltern vor den Augen und Ohren der Kinder, gerät deren emotionale Stabilität schnell ins Wanken. Schon die Kleinsten reagieren bei Streit sensibel auf Mimik, Gestik und Stimmlage, ohne genau zu verstehen, was passiert. Anfeindungen verunsichern sie, lösen emotionalen Stress aus.
Ist es also besser, nicht vor den Kindern zu streiten? Nicht unbedingt, denn Kinder haben ein feines Empfinden für „dicke Luft“. Sie spüren, wenn sich ein Streit unterschwellig aufbaut. Und ein unausgesprochener Konflikt belastet und verunsichert sie genauso. Kein Streit vor den Kindern ist deshalb auch keine Lösung. Es geht um ein faires und konstruktives Konfliktverhalten. Dazu gehört, die Kinder nie in die Auseinandersetzung hineinzuziehen, nicht vor ihnen schlecht über den anderen zu reden, auf Beschimpfungen zu verzichten.
Werden solche Spielregeln im Streit beachtet, kann dies für Kinder zu einer wichtigen Lebenserfahrung werden; sie können so konstruktive Streitkultur erlernen. Kein Problem sind die kleinen täglichen Meinungsverschiedenheiten. Mit ihnen kommen Kinder gut zurecht.

Nina Schreiber
Psychologin, Heidelberg
Es gibt sicherlich Streitthemen, die nicht für Kinderohren bestimmt sind. Auch „extremes“ Streitverhalten, das zu viel Raum einnimmt oder mit „ungesundem“ Verhalten (wie Aggressivität oder Manipulation) einhergeht, kann für Eltern und Kind eine übermäßige Belastung bedeuten. In diesem Fall ist es eventuell ratsam, externe Hilfe, etwa in Form einer Paartherapie, in Anspruch zu nehmen.
Die Lösung liegt jedoch nicht darin, Streit zu vermeiden: Konflikte gehören dazu und Kinder sollten lernen, dass eine tragfähige Beziehung auch Konflikte aushalten kann. Für Kinder ist es daher wichtig, Vorbilder zu haben, wie man „gut“ streitet, denn: Zum Streiten gehören viele wichtige Fähigkeiten: eigene Bedürfnisse und Gefühle ernst nehmen, diese nach außen kommunizieren und dafür einstehen, jedoch auch Verständnis zeigen und Kompromisse eingehen. 
Für Eltern heißt dies, dass sie über ihr eigenes Streitverhalten nachdenken sollten: Welche Worte verwenden wir im Streit? Was führt dazu, dass ein Streit hitziger wird als nötig? Fühlen wir uns voneinander verstanden? Hier kann es insbesondere hilfreich sein zu überlegen, was wir vom Streitverhalten der eigenen Eltern gelernt haben.

Monika Remedios
Lehrerin und Mutter, Riedstadt
Meinungsverschiedenheiten und Streit gehören zu jeder Beziehung und sind deshalb auch wichtige Lernmomente. Kinder spüren Uneinigkeit sofort. Wenn wir uns dann zurückziehen und den Konflikt hinter verschlossener Tür austragen, spielen wir den Kindern eine unrealistische Perfektion vor, die nur schadet. Wir haben daher gemerkt: Es ist ausgesprochen wichtig, dass die Kinder sehen, dass es in Beziehungen manchmal auch schwer ist, dass Missverständnisse passieren können, dass man Fehler macht und dass man Kompromisse suchen muss. Die Lektion ist nicht der Streit an sich, sondern der Weg zur Lösung, der meiner Meinung nach unbedingt vor den Augen der Kinder passieren muss.
Also: nicht beim Konflikt stehen bleiben, sondern abkühlen, besser zuhören, um Verzeihung bitten, Fehler eingestehen, konstruktiv eine Lösung suchen und ­– ganz besonders wichtig – die Umarmung und der Kuss am Ende. Es ist nicht immer einfach, aber es sind gerade diese Momente, die zum Wachstum und zur größeren Einheit in der Beziehung führen. Kinder lernen so, dass ein Fehler, ein Streit nicht das Ende der Welt sind, sondern nur ein wichtiger Wegabschnitt, nach dem man bestärkt ist und wieder Hand in Hand weitergehen kann.

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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Januar/Februar 2023.
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