Geheimrezept „Solidarität“
Er kam aus Burkina Faso nach Italien, als er zwölf Jahre alt war.
Heute ist Ibrahim Songne 31 Jahre alt und Inhaber einer kleinen Pizzeria im historischen Zentrum von Trient.
„Kein Italiener wird in deinen Laden kommen.“ Es war im Sommer 2018. Ibrahim Songne hatte beschlossen, sich kopfüber in ein neues Abenteuer zu stürzen und eine Pizzeria im Zentrum der norditalienischen Stadt Trient zu eröffnen. Da waren solche Aussagen nicht gerade ermutigend.
Doch der heute 31-jährige Songne hatte schon andere Hindernisse überwunden. Er war zwölf Jahre alt, als er seine Mutter in Burkina Faso verließ, um nach Italien zu gelangen und dort ein würdevolles Leben zu führen. Bescheidenheit, Entschlossenheit und sein bemerkenswertes Kochtalent ermöglichten es ihm, sein Ziel zu erreichen.
„Ich kam im Rahmen der Familienzusammenführung zu meinem Vater nach Trient und habe hier die Schule besucht.“ In seiner Klasse war er der einzige Afrikaner. „Seit ich 15 Jahre alt bin, habe ich auch gearbeitet“, berichtet Ibrahim Songne. Er nutzte seinen Verdienst, um einen Logopäden zu bezahlen. So hoffte er, sein ernstes Stotterproblem in den Griff zu bekommen, mit dem ihn einige seiner Mitschüler aufzogen. „Die Therapie kostete 50 Euro pro Sitzung, und um das Geld aufzutreiben, habe ich viele Jobs angenommen: vom Automechaniker, Reifentechniker, Barkeeper bis zum Saisonarbeiter bei der Weinlese.“
„Einige Jahre später wurde ich italienischer Staatsbürger, und mein Leben nahm eine Wendung.“ Ibrahim Songne bekam seine erste feste Anstellung in einer Konditorei – eine prägende Erfahrung. Nachdem er eine Vielzahl an Süßigkeiten hergestellt hatte, zog es ihn zur Zubereitung von Herzhaftem hin. „Ich war viel unterwegs, um zu lernen und Erfahrungen zu sammeln. Ich suchte nach neuen Inspirationen für Focaccia- und Pizzarezepte. Auf meinen Reisen durch ganz Italien habe ich die regionalen Aromen entdeckt und so mein Rezeptbuch bereichert“, sagt er.
Schließlich entschloss er sich, „Ibris“ zu eröffnen, eine Pizzeria in der Nähe des Trientner Domplatzes. Focaccie und Pizza zum Mitnehmen sollte es dort geben. Am 11. August 2018 war es so weit: Ibris öffnete seine Türen. Doch tatsächlich schien es so, als würde sich die Warnung erfüllen. Nur wenige Menschen kamen in seinen Laden. Ein schwarzer Pizzabäcker, ein Afrikaner, der ein Produkt herstellt, das wie wenige andere für „Made in Italy“ steht: Das konnten sich die meisten wohl nicht vorstellen. Ibrahim Songne hat dieses Vorurteil geärgert. Aufgegeben hat er nicht. Er stellte weiße Verkäuferinnen ein, ein eher defensiver, aber durchaus erfolgreicher Schritt zu einer größeren Kundschaft.
Längst jedoch hat Songne solche Kompromisse nicht mehr nötig. Heute gehört Ibris zu den beliebtesten Take-away-Pizzerien Trients. Dort gibt es Focaccie und Pizza von hoher Qualität: Der Teig muss mindestens 24 Stunden gehen, und die Pizza wird gleich zweimal gebacken: einmal nur der Teig und ein zweites Mal nach dem Belegen. So wird die Pizza knusprig, luftig und leicht. Jede Woche kreiert Songne eine neue Pizzasorte. Er gesteht: „Ich mag seltsame Kombinationen.“ Seine Kunden offensichtlich auch. Einige nennen ihn den „Magier der Hefe und des Mehls“.
Inzwischen kann der junge Pizzabäcker auch seinen Bruder Issouf und seine Freundin Anila beschäftigen. Doch seine Solidarität endet nicht bei der eigenen Familie. Ein Jahr nach der Eröffnung entschied sich Ibrahim Songne, mit einigen Sozialeinrichtungen der Stadt zusammenzuarbeiten. „Meine Pizza schmeckt auch am nächsten Tag noch gut, und so werden übrig gebliebene Pizzastücke und Focaccie am Ende des Abends nicht weggeworfen, sondern gehen an Bedürftige: Familien, Alleinerziehende, Arbeitslose und Obdachlose.“
Einen besonderen Erfolg hatte die Idee der „pizza sospesa“, auf Deutsch so etwas wie „Pizza in der Warteschleife“: Ein Kunde bezahlt ein Stück Pizza zusätzlich, und ein Bedürftiger kann sie sich später abholen. „So können meine Kunden all jenen eine leckere Mahlzeit sichern, die sie wirklich brauchen“, erläutert Ibrahim Songne. Die Idee für die „pizza sospesa“ hatte er, als eine hungrige Frau in die Pizzeria kam. „Ich habe ihr ein Stück angeboten, und sie brach in Tränen aus“, erinnert er sich. „Es ist nicht gut, Menschen mit leeren Bäuchen zurückzulassen und sie zu zwingen, im Müll zu wühlen, um etwas zu finden, das sie sich zwischen die Zähne schieben können.“ Songne hat beobachtet, dass viele Menschen nicht den Mut haben, zur Caritas oder zu anderen Sozialeinrichtungen zu gehen. „Bei mir haben sie die Möglichkeit, wie ein normaler Kunde ein- und auszugehen. Auf diese Weise wird auch die Würde dieser Menschen gewahrt.“
Als der Pizzabäcker begann, mit der „pizza sospesa“ seine Kunden in die Solidarität einzubinden, hat er sich für Transparenz entschieden, indem er den Namen des Spenders auf der Quittung vermerkt. „Es ist eine Möglichkeit, zu zeigen, dass die Hilfe echt ist. Manchmal kommt es auch zu anrührenden Begegnungen, wenn ein Empfänger sich beim Spender bedanken möchte.“ Innerhalb von zwei Jahren wurden Pizzen im Wert von etwa 10 000 Euro gespendet.
2021 kam es zu einer völlig unerwarteten Anerkennung der Arbeit von Ibrahim Songne: Ibris wurde von „50 Top Pizza“, einem der wichtigsten Online-Führer, als einzige aus der Region Trentino-Südtirol in die prestigeträchtige Liste der besten Take-away-Pizzerien in Italien aufgenommen. „Die Pizzen von Ibris sind ausgezeichnet“, heißt es zur Begründung, „der Teig ist perfekt durchsäuert, bekömmlich und der Belag reichhaltig und lecker. Besonders raffiniert sind die fantasievollen Kombinationen der einzelnen Pizzen und Focaccie. Ein attraktiver und preiswerter kulinarischer Anlaufpunkt im historischen Zentrum von Trient.“
„Als ich das erfuhr, habe ich daran gedacht, was wir durchgemacht haben, um unseren Traum zu verwirklichen“, sagt Songne. „Vor allem aber ist mir in den Sinn gekommen, wie viele wunderbare Menschen wir bei der Arbeit hinter dem Tresen kennengelernt haben. In der Pizzeria haben wir besondere Menschen getroffen, die, wenn auch nur für ein paar Minuten, in unsere Welt eingetreten sind, und mit denen wir Glück, Ängste und Ideen geteilt haben.“
Solidarität – nicht nur materielle – scheint das Geheimrezept von Ibris zu sein.
Peter Forst
Pizza in der Warteschleife
Im süditalienischen Neapel gibt es das schon lange: In vielen Bars können Kunden einen Kaffee zusätzlich bezahlen, den ein Bedürftiger später kostenlos trinken kann – einen „caffè sospeso“. Im Norden des Landes hat der aus Burkina Faso stammende Pizzabäcker Ibrahim Songne diese Idee auf Pizzastücke übertragen. In seiner Take-away-Pizzeria Ibris im Herzen von Trient gibt es seit drei Jahren die „pizza sospesa“, eine Möglichkeit, sich solidarisch mit notleidenden Menschen zu zeigen, die seine Kunden gerne nutzen. Dass auch die Qualität seiner Pizzen stimmt, zeigt sich daran, dass Ibris seit 2021 zu den 50 besten Mitnahme-Pizzerien Italiens zählt. Top 50 Pizza listet sie derzeit auf Platz 39.
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, März/April 2023.
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