5. Juni 2023

„Deine Verletzungen sind mir nicht egal“

Von nst5

Darf man heute noch sagen, was man denkt?

Oder schränkt eine übertriebene Rücksicht auf Minderheiten die Meinungsfreiheit ein? Gedanken zur sogenannten „Cancel Culture“

Man darf heutzutage nicht mehr sagen, was man denkt!“ Haben Sie diesen Satz schon einmal gehört? Ist er Ihnen auf den Seiten des Feuilletons, auf einem Talk-Show-Sofa oder einer Comedy-Bühne begegnet? Wenn ja, dann sind Sie mittendrin in der Auseinandersetzung um das vermeintliche Phänomen der „Cancel Culture“.
Um diesen aus dem amerikanischen Kulturraum übernommen Begriff zu erklären, genügt eine wörtliche Übersetzung nicht. „Cancel Culture“ ist Vorwurf und Kampfansage. An ihr scheiden sich die Geister. Die einen – meist rechts-konservative Vertreter – vermuten sie überall, die anderen – eher links-liberal Denkende – meinen, dass es sie gar nicht gibt. Die Wahrheit liegt wohl, wie so oft, irgendwo dazwischen.
„Man darf heutzutage nicht mehr sagen, was man denkt!“ Haben Sie diesen Satz schon einmal gehört? Ist er Ihnen auf den Seiten des Feuilletons, auf einem Talk-Show-Sofa oder einer Comedy-Bühne begegnet? Wenn ja, dann sind Sie mittendrin in der Auseinandersetzung um das vermeintliche Phänomen der „Cancel Culture“.
Um diesen aus dem amerikanischen Kulturraum übernommen Begriff zu erklären, genügt eine wörtliche Übersetzung nicht. „Cancel Culture“ ist Vorwurf und Kampfansage. An ihr scheiden sich die Geister. Die einen – meist rechts-konservative Vertreter – vermuten sie überall, die anderen – eher links-liberal Denkende – meinen, dass es sie gar nicht gibt. Die Wahrheit liegt wohl, wie so oft, irgendwo dazwischen.
Das englische Verb „to cancel“ bedeutet löschen, auflösen, ausstreichen. Wer von „Cancel Culture“ spricht, meint also, in unserer Gesellschaft seien Zensur und Sprechverbote weit verbreitet. Eine Bewegung von unten, aus den Hörsälen und Social-Media-Plattformen heraus, habe die Macht, den öffentlichen Diskurs zu lenken und zu bestimmen.

Positives Ansinnen
Tatsächlich gibt es das Bestreben, Meinungen und Haltungen, die Minderheiten diskriminieren, die rassistisch oder antisemitisch, frauen- oder LGBTQ-feindlich sind, zu ächten und möglichst zu verbannen. Ihnen soll die Bühne entzogen werden. Ein durchaus positives Ansinnen. Doch manchen geht dies zu weit; sie sehen darin die Meinungsfreiheit eingeschränkt. Ausgerechnet diejenigen, die sich den Kampf gegen Diskriminierung auf die Fahnen geschrieben hätten, würden selbst diskriminieren.
Ein aktueller Fall: Roger Waters, Musiker und Ex-Pink-Floyd-Mitglied, fällt gerne mit provokanten Äußerungen zu Israel („Apartheit-Staat“), der russischen Invasion in die Ukraine („vom Westen provoziert“) und Taiwan („China hat einen berechtigten Anspruch auf das Land“) auf. 2023 kommt er auf Tour nach Deutschland. Hessen und die Stadt Frankfurt überlegen aktuell, sein Konzert in der Frankfurter Messe abzusagen. Dürfen sie das? Da sie die Hausherren sind, ja. Aber sollten sie es auch tun?
„Ich bin zwar anderer Meinung als Sie, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass Sie Ihre Meinung frei aussprechen dürfen.“ Dieses Voltaire zugeschriebene Zitat beschreibt einen elementaren Teil des Wesens von Demokratie. Nur in einer Gesellschaft, in der die Einzelnen sich ausdrücken können, entwickeln sich politische Ideen frei und können zu dem heranreifen, was hoffentlich dem Wohle aller dient. „Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine“, sagte Helmut Schmidt pointiert.
Gibt es also gar keine Grenzen des Sagbaren? Fragen Sie eine US-Amerikanerin oder einen Deutschen, wird die Antwort darauf unterschiedlich ausfallen. In Deutschland schränkt der zweite Absatz von Artikel 5 des Grundgesetzes das Recht, seine Meinung frei zu äußern und zu verbreiten, gleich wieder ein. Die Leugnung des Holocaust ist hierzulande, wie in den meisten europäischen Staaten, wegen „Volksverhetzung“ verboten.
In den USA nicht. Dort wird „free speech“ absolut gesetzt. Politische Äußerung kann extremistischer, beleidigender und faktenbefreiter stattfinden. Vor diesem Hintergrund ist das, was als „Cancel Culture“ bezeichnet wird, ein Impuls, sich gegen diskriminierende Meinungen zur Wehr zu setzen. Du darfst sagen, was du willst? Dann darf ich dich dafür kritisieren und versuchen, dir deine Reichweite, deine Plattform, deine Macht zu nehmen.

Nicht immer logisch
Als Filmemacherin und Dozentin an einer Münchner Kunsthochschule ist es für mich selbstverständlich, durch meine Haltung und meine Sprache niemand verletzen und alle einschließen zu wollen. So sage ich „Studierende“ anstatt „Studenten“ und nutze das Gender-Sternchen. Das tue ich aus freien Stücken, als Beitrag zu einer Welt mit weniger Ausgrenzung, Gewalt, Ungleichheit. Dabei überlasse ich Menschen aus Minderheiten die Deutungshoheit. Der Begriff „Farbige“ verletzt, stattdessen soll ich „People of Colour“ sagen. Logisch ist das nicht, sagt die Englisch-Schülerin in mir. Aber wenn mein Gegenüber es so möchte, will ich das gerne tun.

Illustration: (c) FrankRamspott (iStock; bearbeitet von elfgenpick)

Es geht um subjektives, emotionales Empfinden. Diese Gefühle werden oft absolut gesetzt. Das kann problematisch werden. Die Angst, zu verletzen und etwas falsch zu machen, lähmt gerade Kunstschaffende immer wieder. Wie soll etwa Komik auf ständig enger gezogene Grenzen reagieren, wo es doch ihre Natur ist, Grenzen zu überschreiten? Wie soll man mit Texten aus einer Zeit umgehen, in der andere Maßstäbe an Sprache angelegt wurden? Aktuell sind zahlreiche Verlage dabei, Autoren wie Astrid Lindgren, Mark Twain oder Agatha Christie umzuschreiben. Im Februar dieses Jahres hat das Kulturzentrum im niederländischen Groningen „Warten auf Godot“ abgesetzt, weil eine rein männliche Besetzung auf der Bühne zu sehen war.
Das sind Auswirkungen, bei denen das Pendel der guten Absichten übertrieben in die andere Richtung ausschlägt. Spreche ich mit Studierenden darüber, sehen diese das ähnlich und stehen manchen Impulsen kritisch gegenüber. Ist Übertreibung dennoch nötig, um festgefahrene Strukturen aufzubrechen?
Im Spielfilm „TÁR“ schlägt die Dirigentin Lydia Tár dem Musikstudierenden Max vor, sich mit Johann Sebastian Bach zu beschäftigen. Der lehnt ab. Er habe Probleme mit der Person von Bach und sehe nicht ein, warum er, ein schwarzer nicht-heterosexueller junger Mann, sich mit einem Weißen aus dem 18. Jahrhundert beschäftigen solle, der Kinder mit zahlreichen Frauen hatte.
Soll man das Werk ächten, weil man die Person moralisch nicht gutheißt? Eine Frage, in der ich selbst hin- und hergerissen bin. Als Jugendliche haben mich die Filme von Woody Allen begeistert und tief geprägt. Nun tue ich mich schwer damit, sie anzusehen. Der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs seiner Adoptivtochter wiegt zu schwer.
Die Aufregung über die „Cancel Culture“ ist groß. Politiker und Prominente beschweren sich über den Wandel der Sprache und die gefühlte Verbotskultur. Dass sie das in aller Öffentlichkeit tun können, zeigt, dass die „Cancel Culture“ nicht so mächtig ist, wie ihr vorgeworfen wird. Und: In den USA sind es die Kritiker der „Cancel Culture“, die gerade Bücher über Rassismus und LGBTQ-Themen aus Bibliotheken verbannen. Eine der meistverbotenen Autorinnen ist die Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison.
Dabei kann die Debatte um „Cancel Culture“ durchaus fruchtbar sein, wenn sie den anfänglichen Empörungsimpuls überwindet und sich den Sorgen beider Seiten öffnet. Zeige ich Minderheiten: „Deine Verletzungen sind mir nicht egal und ich bemühe mich, dir würdevoll zu begegnen“? Bin ich bereit für einen offenen Diskurs und halte Meinungen aus, die in mir Widerstand hervorrufen? Traue ich mich, mich zu positionieren, und bin zugleich bereit, die eigene Haltung zu überdenken?
Vielleicht geht es ja darum, was Toni Morrison einmal zu Studierenden sagte: „Ihre eigentliche Aufgabe besteht darin, dass Sie, wenn Sie frei sind, jemand anderen befreien müssen. Wenn Sie etwas Macht haben, dann ist es Ihre Aufgabe, jemand anderen zu ermächtigen.“
Anja Lupfer


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Mai/Juni 2023.
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