5. Juni 2023

Brauchen wir das alles?

Von nst5

In einer Wohlstandgesellschaft wird vieles verschwendet,

was anderen fehlt. Welchen Wohlstand wollen wir? Für wen? Und wie erreichen wir ihn?

Die meisten Menschen in unseren Nationen haben größere Autos und mehr Wohnraum als alle Generationen zuvor. Sie nutzen Gerätschaften und haben Länder bereist, von denen ihre Großeltern nicht einmal geträumt haben. Trotz Inflation wächst die Wirtschaft immer noch, wenn auch nur leicht, und die Arbeitslosigkeit ist vergleichsweise niedrig.
Der heutige Wohlstand, auf den viele in unseren Breiten ein Anrecht zu haben meinen, ist weltweit gesehen der Standard einer Minderheit. Gleichzeitig haben zwei Milliarden Menschen auf der Erde – das ist jeder vierte – keinen regelmäßigen Zugang zu sauberem Wasser. Über vier Milliarden können im Jahr 2023 keine sicheren Sanitäranlagen nutzen – also jeder zweite. Jeder zehnte hat keinen Zugang zu elektrischem Strom.
Der Wohlstand ist nicht nur in den verschiedenen Regionen der Erde ungerecht verteilt, auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz kommen viele Menschen gar nicht oder nur unter größten Anstrengungen und mit starken Einschränkungen über die Runden.

Foto: (c) ArtMarie (iStock)

Die Furcht hat zugenommen, dass das wirtschaftliche Wachstum bald an seine Grenze kommt. Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg haben uns die starke internationale wirtschaftliche Abhängigkeit vor Augen geführt: Lieferketten wurden unterbrochen; die Produktion von Gütern konnte nicht fortgesetzt oder musste ganz neu organisiert werden; der Hunger in ohnehin notgeplagten Teilen der Welt ist gewachsen. Werden unsere Kinder und Enkel noch ausreichend Wasser und Nahrungsmittel haben? Können wir freiwillig kürzer treten? Oder werden uns die weltweiten politischen Machtverschiebungen und der rasante Klimawandel dazu zwingen?
Wirtschaftlich misst sich Wohlstand daran, wie gut die privaten Haushalte und die gesamte Gesellschaft mit Gütern und Dienstleistungen versorgt sind. Darüber hinaus meint Wohlstand auch die Lebensqualität – die sozialen Beziehungen und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – sowie die Nachhaltigkeit und den Zustand der Umwelt. Auch eine gute Arbeitsstelle, soziale Absicherung, Gesundheit können dazu gehören. Eine noch weitere Sicht hatte der vor zwei Jahren verstorbene US-amerikanische Glücksforscher Ed Diener, der vom „Psychologischen Wohlstand“ sprach. Darunter verstand er das Gefühl, sich engagieren zu können und ein gelungenes Leben zu führen, das sich lohnt, Sinn hat und zufriedenstellt. Was auch davon abhängt, ob ich eine positive Grundeinstellung zum Leben habe, welche Werte mir wichtig sind und ob ich ihnen entspreche.

Illustration: (c) Katerina Sisperova (iStock)

Die technische Entwicklung mit der zunehmenden Digitalisierung hat zusammen mit anderen Faktoren dazu geführt, dass viele Frauen und Männer von Hast und Zeitzwängen gestresst sind. Das Bedürfnis nach Zeit für Muße hat Ecuador dagegen in seinem Verständnis von Wohlstand schon berücksichtigt: Zusammen mit Zeitbedarf nach selbstbestimmter Arbeit, Bildung, sozialen Beziehungen und Teilhabe am öffentlichen Leben ist es in den „Index des guten Lebens“ eingeflossen. Ecuador und Bolivien haben bereits 2006 und 2008 in einer Rückbesinnung auf Lebensprinzipien ihrer indigenen Bevölkerung den Schutz von „Mutter Erde“ und das Recht auf „gutes Leben“, das auf das Gemeinwohl bezogen aufgefasst wird, in der Verfassung verankert.
In einer Überflussgesellschaft spielen Kaufen, Besitzen und Verbrauchen eine große Rolle. Das, was Menschen wollen, muss nicht unbedingt das sein, was sie brauchen. Werbung, der Vergleich mit anderen, der soziale Druck können bestimmen, was jemand haben will oder zu brauchen meint. Vielleicht kaufe ich etwas, weil ich damit meine Suche nach Sinn, Erfüllung oder sozialen Kontakten befriedigen will: Eigentlich möchte ich Anerkennung, bewundert werden, zu einer Gruppe gehören, chic sein, „in“ sein, mich für etwas „belohnen“, von Sorgen ablenken, Spannung oder Stress abbauen.

Illustration: (c) Viktoria Kurpas (iStock)

Nachhaltigkeitsforschung und Umweltpolitik setzen den Ideen von Effizienz, Wachstum und „Immer mehr“ die „Suffizienz“ entgegen. Dazu gehören Fragen, was das rechte Maß ist, wie Konsumverzicht und Selbstbegrenzung, Entschleunigung und Loswerden von Ballast aussehen können: Was reicht aus, um gut leben zu können? Was ist für alle verträglich? Chiara Lubich (1920 – 2008) hat dafür das Beispiel der Pflanzen nahegelegt: „Aus der Erde nehmen sie nur Wasser, Nährstoffe und das, was sie brauchen, auf – mehr nicht.“ Eine solche Genügsamkeit für sich selbst empfahl die Gründerin der Fokolar-Bewegung nicht zuletzt mit Rücksicht auf die Menschen, die weniger zur Verfügung haben. Dazu verfocht sie die christliche Gütergemeinschaft, die sie auch „Kultur des Gebens“ nannte: Was man selbst nicht mehr oder nicht ständig nutzt, kann man denen, die es brauchen, leihen oder schenken – Güter kann man kreisen lassen: „Jeder muss haben, was er braucht, und kann alles andere geben und mit anderen teilen.“ Vertrauen in andere und inneres Losgelöstsein vom Besitz sind Voraussetzungen dafür, dass dieses Spiel von Geben und Nehmen funktioniert. Wenn es auf Gegenseitigkeit beruht, erhalte auch ich von anderen, was ich brauche und nicht selbst habe.
Ähnliche Ideen sind in Tauschbörsen und Repair-Cafés verwirklicht und in der 2019 von Papst Franziskus angestoßenen weltweiten Initiative „Economy of Francesco“. Junge Menschen machen sich zusammen mit Wissenschaftlern Gedanken über eine Art des Wirtschaftens, die menschenwürdige und sichere Arbeitsbedingungen für alle Menschen ermöglicht und dabei kulturelle Traditionen der Völker, Artenschutz und natürliche Ressourcen der Erde schützt.
Mich zu begrenzen darauf, was mir für ein gutes Leben „reicht“, und zugleich im Blick behalten, dass alle ausreichend zum Leben haben, kann mir eine andere Freiheit geben, als ihn der Konsum verspricht: Bedarf sinnvoll drosseln – wenn Raum dafür ist – kann befreien von Stress, Kosten, von Sorgen, Abhängigkeiten, vom Druck, ein bestimmtes Gehalt bekommen oder andere beeindrucken zu müssen. Ansprüche vernünftig herunterschrauben – wo es möglich ist – kann mir mehr Leichtigkeit und Selbstsicherheit, meinem Leben mehr Selbstbestimmung und Sinn geben und es damit reicher machen.
Clemens Behr

Hat Ihnen der Artikel gefallen? Möchten Sie mehr von uns lesen? Dann können Sie hier das Magazin NEUE STADT abonnieren oder ein kostenloses Probe-Heft anfordern.
Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Mai/Juni 2023.
(c) Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt, München
Ihre Meinung ist uns wichtig, schreiben Sie uns! Anschrift und E-Mail finden Sie unter Kontakt.