2. Juni 2023

Wohlstands-Zeitenwende?

Von nst5

Günter Hirth

Foto: privat

ist promovierter Volkswirt und war Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule Hannover. Er hat bis Februar 2023 die Berufsbildung der IHK Hannover geleitet. Gearbeitet hat er zu Grundsatzfragen der wirtschaftlichen Entwicklung, Unternehmensgründungen und Themen der Bildungspolitik und Fachkräftesicherung.


Heißt „Zeitenwende“ mit weniger Wohlstand leben? Sicher, acht Prozent Inflation merken alle. Dabei hatten sich viele seit der Finanzkrise vor 14 Jahren an Preisstabilität, moderat wachsende Nettolöhne – mehr Wohlstand – gewöhnt. Mehr als eine Generation hat keine gesamtwirtschaftliche Krise erlebt. Aber es gibt weder ein Naturgesetz noch einen Rechtsanspruch darauf, dass es wirtschaftlich immer bergauf geht. Es gab immer schon Konjunkturzyklen mit Auf- und Abschwüngen.
Die Situation ist für Arbeitnehmer so günstig wie seit Jahren nicht: Die Chance, einen Arbeitsplatz zu finden, ist besser als jemals seit den 1980er-Jahren, der Beschäftigungsstand auf einem Allzeithoch; Gewerkschaften hatten selten eine solche Durchsetzungsmacht.
Trotzdem gibt es auch für abhängig Beschäftigte fundamentale Risiken: Der notwendige Umbau der Wirtschaft („Transformation“) fordert höhere und andere Qualifikationen. Digitale Kompetenz wird zwingend. Leider sind in Deutschland seit Jahrzehnten stabil 14 bis 16 Prozent jedes Jahrgangs ohne abgeschlossene Ausbildung. Ihnen wird in Krisen zuerst gekündigt. Fazit: Qualifikation, Aus- und Weiterbildung werden noch wichtiger als bisher.
Auch für Unternehmen ist es kein Zuckerschlecken: Die Kosten für Rohstoff, Energie, Personal steigen gleichzeitig und sind schwer kalkulierbar. Sie können nur teilweise an die Kunden weitergereicht werden, vor allem im internationalen Wettbewerb. Zeitenwende heißt hier: Es gibt kein Zurück zum russischen Gas, und die Transformation ist zu bewältigen. Gesunde Geschäftsbeziehungen beruhen auf Vertrauen und Planungssicherheit. Gut, dass wenigstens der europäische Binnenmarkt hier stabilisiert.
Die Politik steht vor der Herausforderung, dass Kredite wieder Geld kosten und das den Spielraum des Staates einengt. Sicherheit (=Verteidigungsfähigkeit) wird teurer. Zahlreiche Strukturprobleme sind nicht zu übersehen: zeitgemäße digitale Infrastruktur fehlt; Brücken, die Bahn sowie das Elektrizitätsnetz wurden jahrzehntelang vernachlässigt; der Umbau stockt auch deshalb, weil Genehmigungsverfahren, Ausschreibungsmodalitäten sowie ausufernde „Klagelust“ dazu führen, dass Vorhaben teils Jahrzehnte zu spät realisiert werden.
Das deutsche Bildungssystem ist im Kern noch aus Humboldts Zeiten: feste Schulstunden, Hausaufgaben, Halbtagsunterricht: Alles wie gehabt. Plätze in Kitas und Kindergärten sind Mangelware. Inzwischen hat gut ein Drittel jedes Schuljahrgangs Migrationshintergrund. Hier zeigen klassische Einwanderungsländer, wie es geht: echter Ganztagsunterricht, damit Kinder in Sprache und Kultur wirklich eintauchen. Die Pläne der Kultusministerkonferenz sind da eher eine Mogelpackung zu Lasten einer ganzen jungen Generation! Hier liegen die eigentlichen Wohlstandsrisiken.
Unterm Strich? Heute verursacht die hohe Inflation geringeren Wohlstand. Es werden „magere Jahre“. Sorgen in Bezug auf die Zukunft machen vor allem die strukturellen Probleme: Klima, Energie, Infrastruktur, Bildung, Zuwanderung.
Zeitenwende heißt: in die Zukunft investieren. Volkswirtschaftlich bedeuten Investitionen zunächst einmal Verzicht auf Konsum – einer nachhaltig stabilen Zukunft wegen.


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Mai/Juni 2023.
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