3. August 2023

Sie fehlen. Nicht nur hier.

Von nst5

Wir brauchen Fachkräfte. Viele kommen aus Osteuropa,

um hier zu arbeiten. Doch was bedeutet die Arbeitsmigration für sie und ihre Heimatländer?

Wie viele Lastwagen mögen es wohl sein, die dicht an dicht in der glühenden Hitze auf der Autobahnraststätte stehen? Wahrscheinlich Hunderte, unzählige von ihnen mit Kennzeichen aus Osteuropa. Zwischen den Lastern, auf dem schmalen Grünstreifen, sitzen die Fahrer (und ein paar wenige Fahrerinnen). Manche haben ihre Wäsche zum Trocknen aufgehängt. Manche machen auf kleinen Campingkochern ihr Essen warm, während andere ihre Fahrerkabine verdunkelt haben und schlafen – trotz des enormen Lärms, der von der Autobahn herüberschallt.
Ein hartes Leben, das die Trucker auf deutschen Autobahnen führen. Doch statt ihnen dankbar zu sein, sind wir manchmal schlicht genervt: von den Staus, von zugestellten Parkplätzen, von minutenlangen Überholmanövern. Natürlich wissen wir, dass ohne die Lkw-Fahrer aus Osteuropa die Logistik hierzulande längst nicht mehr funktionieren würde – ebenso wie viele andere zentrale Bereiche der öffentlichen Versorgung und Wirtschaft, wo Arbeitsmigrantinnen und -migranten die Lücken füllen, in denen Deutsche nicht mehr arbeiten wollen oder können.
Das Thema Arbeitsmigration beschäftigt die Menschen derzeit stark; wir hören es beinahe täglich in den Medien: In Deutschland fehlen Arbeitskräfte, gut ausgebildete Fachkräfte ebenso wie ungelernte Helferinnen und Helfer. Sie fehlen in der Landwirtschaft, auf dem Bau, in der Fleischindustrie, bei den Paketfahrern, im Reinigungsdienst, im gesamten medizinischen Bereich und ganz besonders in der Altenpflege, wo die 24-Stunden-Betreuung überwiegend von Frauen aus dem Osten Europas übernommen wird.

Sie fehlen. Immer. Irgendwo.
Grund genug für das Osteuropa-Hilfswerk Renovabis, dieses komplexe Themenfeld in den Blick zu nehmen: „Sie fehlen. Immer. Irgendwo. Arbeitsmigration aus Osteuropa.“ Treffender kann man das Dilemma wahrscheinlich kaum ausdrücken. Fachleute gehen davon aus, dass in Deutschland jährlich 400 000 zusätzliche Arbeitskräfte aus dem Ausland gebraucht werden. Aber: Diese Frauen und Männer fehlen in der Folge in ihren Herkunftsländern. Das hat dort dramatische Folgen. Denn sie fehlen nicht nur als Arbeitskräfte, sondern sie werden auch in ihren Familien schmerzlich vermisst, von den Kindern, den eigenen (pflegebedürftigen) Eltern, im Sportverein, in der Pfarrgemeinde, …

Illustration: (c) S-S-S (iStock; bearbeitet von elfgenpick)

Ein Beispiel: Rund 50 Prozent aller in den vergangenen 20 Jahren in Rumänien ausgebildeten Ärztinnen und Ärzte haben ihr Heimatland verlassen, um in Westeuropa zu arbeiten, ein Großteil davon in Deutschland. Eine enorme Bereicherung für die deutschen Kliniken. Doch was passiert in Rumänien? Auch dort fehlen die Mediziner; zudem belaufen sich die Ausbildungskosten für ein Medizin-Studium in Rumänien auf etwa 100 000 Euro – Kosten, für die das Land keine Entschädigung bekommt. Eine sehr einseitige Gewinn- und Verlustrechnung, wobei wir die Gewinner sind.
Arbeitsmigration war und ist ein selbstverständlicher Teil einer mobilen Gesellschaft. Das gilt insbesondere innerhalb der EU mit der vertraglich verankerten Freizügigkeit aller ihrer Bürgerinnen und Bürger. Zum Problem wird Arbeitsmigration erst, wenn Not oder Perspektivlosigkeit Menschen zwingen, ihr Heimatland zu verlassen – weil das Einkommen nicht zum Leben reicht, weil die Bildungschancen für die Kinder zu schlecht sind oder weil Korruption und Vetternwirtschaft herrschen. Deshalb: Es sollte die freie Entscheidung eines jeden Menschen sein, wo er arbeiten und leben will. Um die Entscheidung „Gehen oder Bleiben“ aber ohne Zwang treffen zu können, sind vor allem drei Dinge unabdingbar: Eine gute Bildung. Eine umfassende Aufklärung über die Arbeits- und Lebensbedingungen im „Westen“, am besten schon im Vorfeld und in der eigenen Muttersprache. Und es braucht Projekte und Hilfen in den Heimatländern, die Perspektiven schaffen sowie Mut machen, Chancen im eigenen Land zu sehen und wahrzunehmen.

Mehr Wertschätzung
Allerdings gibt es auch in Deutschland viel zu tun: Insbesondere weniger gut ausgebildete Hilfskräfte, die der Sprache nicht mächtig sind und die ihre Rechte nicht kennen, werden schändlich oft schlecht behandelt, ja regelrecht ausgebeutet und ausgenutzt. Die Skandale der letzten Jahre – denken wir nur an die Fleischindustrie – sind uns allen im Gedächtnis. Die Arbeitskräfte bekommen weniger Geld für die gleiche Arbeit; sie arbeiten unzählige Stunden am Stück ohne die dringend nötigen Pausen, gerade in der 24-Stunden-Pflege. Manchmal werden sie nicht einmal mit Namen genannt, sie heißen lediglich „meine Rumänen“, die zum Spargelstechen gekommen sind, oder „unsere Polin“, die die alten Eltern pflegt.
Renovabis hat sich während eines Kongresses 2022 mit diesem Aspekt auseinandergesetzt. „Aufbruch in ein besseres Leben? Herausforderung faire Arbeitsmigration“ war die Tagung überschrieben; mehr als 200 Frauen und Männer aus 28 Ländern haben teilgenommen. Der Kongress ging mit dem „Münchner Appell“ zu Ende, der sieben Forderungen an Politik, Gesellschaft und Kirchen formuliert. Eine der wichtigsten: „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ – ein Grundsatz, der auch wirksam durchgesetzt werden muss. Dazu braucht es mehr Kontrollen der deutschen Behörden, um Arbeitsrechten gerade in schwierigen Branchen Geltung zu verschaffen. Außerdem müssen die Arbeitskräfte in unserer Gesellschaft, im Alltag und in der persönlichen Begegnung mehr Anerkennung und Wertschätzung erfahren. Sie haben nicht selten in ihren Herkunftsländern schon viel Ungerechtigkeit erlebt – wir haben die moralische Pflicht, ihnen zu zeigen, dass es hier besser geht.
Gerade Christinnen und Christen sollten sich gemeinsam dafür einsetzen, dass die Entscheidung, im Ausland zu arbeiten, auf einer freien Wahl beruht und nicht der Not geschuldet ist. Wir können mit unseren Spenden Projekte von Renovabis-Partnern in Osteuropa unterstützen, die für eine bessere Bildung sorgen, die Fortbildungen ermöglichen oder Start-Ups erleichtern. Und wir sollten uns dafür stark machen, dass die Arbeitskräfte in Deutschland fair bezahlt und wertschätzend behandelt werden. Das bedeutet politisches Engagement, bei dem die Kirchen vorangehen können. Das bedeutet auch, selbst etwas zu tun – und seien es nur kleine Schritte. Wir könnten zum Beispiel die Menschen, die zu uns gekommen sind, einfach mal fragen, wie es ihnen geht, ob sie etwas brauchen, ob wir helfen können.
Denn wie formulierte schon der Schriftsteller Max Frisch: „Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen.“ Das war übrigens 1965, im Zuge der ersten großen Anwerbewelle für die damals „Gastarbeiter“ genannten Arbeitskräfte.
Thomas Schwartz

Thomas Schwartz ist katholischer Priester, Honorar-Professor für Wirtschaftsethik und seit 2021 Hauptgeschäftsführer von Renovabis, der Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa.


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Juli/August 2023.
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