4. Oktober 2023

Auf die lange Bank

Von nst5

Manche Menschen neigen dazu, unangenehme Dinge und Entscheidungen

so lange liegen zu lassen, bis sie sich nicht mehr aufschieben lassen. Häufig ist das belastend sowohl für die Person selbst als auch für ihre Umgebung. Was tun?

Elli und Dirk von der Heide
Erzieherin und Heilpraktiker, Friedberg
Entscheiden zu müssen, gehört für viele Menschen zu den unangenehmen Dingen. Dafür wurde bereits im Mittelalter der Begriff „auf die lange Bank schieben“ geprägt. Er beschreibt das Vorgehen von Richtern, die schwierige Sachverhalte auf der Bank der zu erledigenden Fälle immer weiter nach hinten geschoben haben. So waren sie erst mal außer Sicht – eine große Erleichterung!
Unangenehmes löst in uns Stress, eine Krisenreaktion aus. Darauf können wir nur mit „aktiv werden“, „flüchten“ oder „ignorieren“ reagieren. Wenn wir uns für „liegen lassen“ entscheiden, sind wir zunächst zufrieden. Und doch ist da immer wieder so ein leichtes Gefühl des Unbehagens; die Notwendigkeit, (irgendwann) zu handeln, bleibt ja bestehen.
Es erfordert dann einiges an Kraft, Zeit, Raum, Mut und manchmal auch Hilfe, sich diesem Unbehagen zu stellen, aus dem Unterbewussten auszubrechen und ganz bewusst die Gesamtsituation zu bewerten und Handlungsmöglichkeiten zu erkennen. Kenne ich jemanden, der mir helfen kann, mit dem es vielleicht sogar eine schöne Erfahrung werden kann, die Sache anzugehen? Oder kann ich mit mir selbst einen Deal schließen und eine Belohnung für die erfolgreiche Lösung ausloben?

Clemens Metzmacher
Psychotherapeut, Unterengadin
Hand aufs Herz: Tätigkeiten und Entscheidungen aufschieben, das kennt jede und jeder von uns, oder? Es ist menschlich, kostet aber Energie, denn damit ist ein innerer Kampf verbunden: Ein Teil möchte etwas, ein anderer – oft unbewusster – möchte etwas anderes und zeigt sich etwa durch unangenehme Gefühle, Vergesslichkeit, körperliche Beschwerden und Selbstabwertungen. Grund dafür ist häufig eine gefühlte Ausweglosigkeit.
Was tun? Erst mal sich dem widerständigen Teil zuwenden: Was in mir stellt sich quer? Dahinter stecken oft verborgene Bedürfnisse, der Wunsch, allem gerecht zu werden oder nicht Nein sagen zu wollen. Dies will erkannt und anerkannt werden. Dann kann ein Blick auf die Auswirkungen hilfreich sein. Nichts zu tun ist in der Wirkung auch eine „knallharte“ Entscheidung – das sollte betrachtet werden. Sich bewusst zu werden, dass es in solchen Situationen keine perfekte Lösung gibt, aber auch, dass jede Lösung ihren Preis hat. Welchen Preis bin ich bereit zu zahlen? Dann ist ganz wichtig: etwas tun, gerne auch unvollkommen. Und sich dafür auf die Schulter zu klopfen.
Im Zusammenleben kann helfen, wenn die betroffene Person ihre gefühlte Ausweglosigkeit mitteilt und die anderen wertschätzend Klartext reden. So kann eine neue Verbindung entstehen, die hilft, sich im Unvollkommenen gegenseitig anzunehmen.

Susanne und Michael Wild
Systemische (Familien-)Therapeuten,
Obergriesbach
„Der sitzt es einfach aus, bis es ein anderer tut“. Diese Äußerung kommt einem leicht über die Lippen, wenn man wieder entnervt darauf wartet, dass der andere endlich erledigt, was schon lange fällig ist.
Schnell kommt das Etikett Faulheit ins Spiel und beide Parteien sind gefangen in verfestigten Verhaltens- und Reaktionsmustern. Der Aufschiebende erlebt, dass er nicht nur sich selbst, sondern auch die anderen immer wieder enttäuscht – ein Teufelskreis beginnt. Wenn wir jedoch davon ausgehen, dass jedes menschliche Verhalten zunächst Sinn macht, drängt sich die Frage auf: Was mag hinter diesem störenden Verhalten stecken? Was wäre, wenn das chronische Aufschiebeverhalten (Prokrastination) eine erlernte Reaktion auf herausfordernde Situationen ist; ein Selbstschutz, vielleicht schon frühkindlich hervorgerufen durch Selbstzweifel, Versagensängste oder auch das Leiden unter Perfektionismus?
„Der Berg wird nicht dadurch kleiner, dass du bis morgen wartest, ihn zu erklimmen.“ Lassen wir den anderen mit dieser Herausforderung allein oder begegnen wir ihr gemeinsam? Was kann ich beitragen, damit du dir den Aufstieg vorstellen kannst? Darf ich dich begleiten? Ist es möglich, dass wir beide unterwegs neue Erfahrungen von Gelingen machen?
So ändert sich möglicherweise unser Blick, weg von der Leidensgemeinschaft hin zu Weggemeinschaft.


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, September/Oktober 2023.
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