4. Oktober 2023

Wenn da nicht der Krieg wäre

Von nst5

Isolde Böttger lebt seit 2020 in Goma

im Osten der Demokratischen Republik (DR) Kongo. Die Deutsche soll dort als Fachkraft für Entwicklungshilfe ein Ausbildungs- und Produktionszentrum für Geflüchtete aufbauen. Sie beschreibt, wie sie das Land und die Umstände wahrnimmt.

Goma ist eine Stadt mit aktuell zwei Millionen Einwohnern. Sie liegt im Osten des Landes an der Grenze zu Ruanda zwischen Kivu-See und Nyragongo-Vulkan im Virunga-Nationalpark. Das Klima ist trotz der Äquator-Nähe sehr erträglich. Durch die Höhe – 1500 Meter – haben wir das ganze Jahr Temperaturen zwischen 15 und 30°C. Es könnte also eine sehr angenehme, schöne und fruchtbare Gegend sein. Wenn da nicht der seit Jahren anhaltende Krieg wäre.
Die Region der Großen Seen – mit den Ländern Ruanda, Burundi, Uganda und dem Kongo – ist nach wie vor hart umkämpft. Allein im Kongo streiten sich über 100 bewaffnete Gruppierungen um den rohstoffreichen Boden. Dazu kommen konkurrierende Interessen fremder Staaten. Die Gegend um Goma ist bekannt für ein hohes Aufkommen von Coltan, Kupfer, anderen seltenen Erden und für die weltweit größten Kobalt-Reserven. Der Rohstoff ist für die Herstellung von Batterien für Smartphones und Elektroautos unverzichtbar und wird oft unter katastrophalen humanitären Bedingungen abgebaut.

Flüchtlingscamp: Warten auf Hilfe. – Alle Fotos: (c) Isolde Böttger

1994 fand im benachbarten Ruanda ein Genozid zwischen zwei Ethnien, den Hutu und den Tutsi, statt. Weil viele in die DR Kongo geflüchtet sind, schwelt der Konflikt hier weiter. Aus dem Südsudan drängen immer wieder militärische Gruppen ins Land, die mit dem IS („Islamischen Staat“) kooperieren. Seit Ende 2022 sind die vermeintlich ruandischen Tutsi-Rebellen der M23, der „Bewegung des 23. März“, erneut auf dem Vormarsch in die Region Goma. Fast eine Million Menschen haben sich in Flüchtlingscamps in der Stadt in Sicherheit gebracht. Viele mussten ihre Häuser und Äcker nicht zum ersten Mal verlassen.
Junge Menschen kennen keine Friedenszeiten. Seit fast 30 Jahren herrschen hier Konflikte. Dennoch ist Leben möglich. Die Menschen zeigen eine unglaubliche Resilienz, die beeindruckende Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen zu überstehen. Sobald es die Situation erlaubt, wird das alltägliche Leben vorangebracht. Wesentlich dafür ist meiner Meinung nach der Glaube an das Jenseits. Jeder hier glaubt – an irgendetwas; Atheismus ist für hiesige Menschen schwer vorstellbar. Der Tod ist über alle Altersgruppen sehr präsent im Leben, verursacht durch Krankheiten, Unfälle mit nicht instand gehaltenen Fahrzeugen, Überfälle, Entführungen, kriegerische Tötungen. Einmal sagte mir ein Kongolese: „Man muss den Tod akzeptieren, bereit sein, jeden Moment zu sterben. Wenn du das schaffst, hast du die Kraft, große Dinge zu tun.“ In der Tat habe auch ich gelernt, jeden Tag dankbar zu sein für alles, was ich erfahren durfte und was gut gelaufen ist, und gleichzeitig alles, was nicht gut ging, vertrauend in die Hände Gottes zu geben. Alles wird wertvoller und erfüllender. Von der Resilienz der Menschen kann ich mir eine Scheibe „abschneiden“.

Isolde Böttger: “Unser Ausbildungs- und Produktionszentrum.”

Die Regierung ist schwach, Korruption an der Tagesordnung; Politiker bereichern sich an öffentlichen Geldern. Grundlegende Infrastruktur wie Krankenhäuser und Schulen ist in den Händen der Kirchen. Die katholische Kirche hat eine mächtige Stimme. Etwa 50 Prozent sind Katholiken. Die Bischofskonferenz ist eine der „lautesten“ in Afrika und meldet sich zu Wort, wenn Menschen unwürdig behandelt oder Grundrechte nicht eingehalten werden. So forderte sie kürzlich in einem offenen Brief, dass der Ausnahmezustand, der seit zwei Jahren im Osten verhängt wurde und das Militär an die Regierung gebracht hatte, endlich beendet wird. Und dass auch Geflüchtete sich ins Wahlregister einschreiben können. Ende des Jahres sollen Präsidentschaftswahlen stattfinden. Das ruft immer starke Spannungen hervor. 2018 hatte die Bischofskonferenz die Wahlen und die Auszählung im ganzen Land beobachtet. So wurde klar, dass das „offizielle“ Ergebnis nicht dem eigentlichen entsprach.

Die Menschen gehen gerne in die Gottesdienste.

Die Menschen gehen gerne in die Gottesdienste. In unserer Pfarrei finden jedes Wochenende fünf statt, mit jeweils etwa 500 Personen. Der zairische Ritus, der in den 1970er-Jahren vom Vatikan anerkannt wurde, ist sehr lebendig – mit Gesang und Tanz. Kein Kongolese bleibt unbewegt, alle klatschen, wippen, tanzen. Das Lob Gottes wird so zu einer ganzheitlichen körperlichen Erfahrung der Freude. Auch Kinder und Jugendliche aller Altersklassen sind mit Begeisterung dabei; Kinder-Tanz-Gruppen wie auch tanzende Ministranten gehören in vielen Gottesdiensten dazu. Beeindruckend ist auch die Organisation der Pfarrei: Sie ist aufgeteilt in viele kleine lokale Gemeinschaften, die sich unter der Woche treffen, Neuigkeiten austauschen und bei Bedarf gegenseitig helfen. Die Bereitschaft zu geben ist enorm. So liegt das Putzen der Kirche in den Händen der Gruppen und der Bau des stattlichen Kirchengebäudes wird zu 100 Prozent durch die Beiträge der Gläubigen finanziert. Es ist noch nicht fertig, trotzdem werden die Gottesdienste schon dort gefeiert und alle freuen sich, wenn dann Wände gestrichen oder Fensterscheiben da sind. Es macht die Menschen stolz, dass sie dazu beigetragen haben.

Auszubildende der Gartenschulung mit junger Saat

Für mich ist die Großzügigkeit immer wieder überwältigend: Wenn dich jemand um Hilfe bittet, schaust du, was du in der Tasche hast, und gibst es – im Wissen, dass auch du selbst erhältst, wenn du in Not bist. Das Leben ist ganz auf den Augenblick ausgerichtet. Die meisten überleben durch den kleinen informellen Handel, den sie betreiben, denn die Arbeitslosigkeit ist enorm hoch. Vor allem für Jugendliche ist es schwierig, nach Schule oder auch Studium Arbeit zu finden. So muss sich jeder „selbst zurechtfinden“, eine Aufforderung, die vom diktatorischen Präsidenten Mobutu sogar in die Verfassung aufgenommen wurde: „Article 15: Débrouillez-vous!“

Begegnung auf der Straße: Für diese Kinder sind Weiße eine Seltenheit. Sie sind neugierig, gehen auf sie zu, wollen sie anfassen.

Leider sind an den Umständen, unter denen das Land heute leidet, die Kolonialmächte nicht schuldlos. Sie hatten bewusst auf Bildung verzichtet. Als der Kongo 1960 unabhängig wurde, gab es im ganzen Land nur zwölf Menschen mit abgeschlossenem Studium. Es fehlt an „Leadership“, an Menschen, die gesellschaftliche Führung und Leitung übernehmen können, was bei einem sehr niedrigen Bildungslevel nur mit viel Mühe aufgebaut werden kann.
Heute schließen viele Länder Verträge, die ihnen über Jahre die Ausbeutung der wertvollen Bodenschätze sichern und in denen im Gegenzug – wie von China – Straßenbau angeboten wird. Deutschland und Europa etwa haben großes Interesse an der Energie-Gewinnung durch den Bau eines Riesen-Staudamms im Kongo-Fluss. In der sogenannten

Mutter und Kind im Näherinnen-Kurs

„Entwicklungshilfe“ wird oft vordergründig Gutes getan, dabei jedoch weitere Abhängigkeit geschaffen, Macht ausgeübt, eigene Interessen vorangebracht. Es fehlt auch heute Kontakt auf Augenhöhe. Ich meine, Vorankommen kann nur dann gelingen, wenn jeder seine eigenen Vorteile zurückstellt und gibt, was er geben kann. Jedoch nicht für von außen diktierte Ziele, sondern für die vor Ort ausgedrückten Bedürfnisse. Auch beim Aufbau eines Ausbildungs- und Produktionszentrums für Geflüchtete sind wir auf Hilfe angewiesen. Die schwierigsten Momente sind dann, wenn Geldgeber nicht von ihren Zielvorgaben abweichen und wir nur „ohnmächtige Ausführende“ sein könnten. Das kann ich manches Mal nur sehr schwer ertragen. In diesen Momenten nehme ich mir an den Menschen hier ein Beispiel und versuche aus dem, was ich habe, das Beste zu machen, und hoffe, nicht daran zugrunde zu gehen.
Isolde Böttger

Demokratische Republik Kongo
Die Demokratische Republik Kongo ist nach Algerien der zweitgrößte Flächenstaat Afrikas und fast siebenmal so groß wie Deutschland. Auf einem Gebiet, das etwa einem Viertel der Größe der USA entspricht, leben rund 90 Millionen Menschen. Der Kongo ist ein Vielvölkerstaat mit mehr als 200 Ethnien. Das Land im Zentrum Afrikas hieß von 1971 bis 1997 Zaire; die Hauptstadt ist Kinshasa.

Verhaltener Stolz: Näherinnen bei der Modenschau mit ihrer selbstgefertigten Kleidung
Alle Fotos: (c) Isolde Böttger


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, September/Oktober 2023.
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