5. Oktober 2023

Für mich leben die Steine

Von nst5

Victor Agudelo sieht in einem Stein, was daraus werden kann.

Vor allem aber möchte er offen sein für das, was Gott in ihm als Mensch sieht. Damit auch das werden kann.

Eine kleine Holzscheune voller Steine, Skulpturen und Werkzeuge: Das ist das Atelier von Victor Agudelo im schweizerischen Baar im Kanton Zug. Kruzifixe, Holz- und Metallarbeiten hängen an den Wänden, manchmal mit wenig Gold und Silber verarbeitet. Figuren in verschiedenen Größen, Torsos und Büsten stehen herum. Manche machen nachdenklich, andere lassen Schalk aufblitzen. Mittendrin steht der Künstler mit einem Arm in der Gipsschiene und kann daher gerade nicht arbeiten. Nicht einfach für ihn, denn: „Die Idee zu einer Skulptur kommt im Moment, in dem ich einen Stein ansehe. Die Steine leben für mich, sie haben Farbe, Form, eine Ausstrahlung …“

Foto: © Forum/Christoph Wider
(Foto oben über der Titelzeile: privat)

Regelmäßig fährt Victor Agudelo mit seiner Frau in die Toskana und holt dort Reste von Alabaster. „Dieser Stein ist wunderschön, fast durchscheinend! Stark und zart zugleich“, schwärmt er. „Ich sehe also einen dieser Steine und denke: Das wird ein Torso. Und ich beginne.“ Während der Arbeit entdeckt er dann: Der Stein deutet einen Flügel an, der aus dem Torso wächst. „Das ist wunderbar. Es ist ein Frauenkörper. Sie fliegt!“ Die Skulptur, die er aus seiner Erinnerung beschreibt, hat er dann einer Frau geschenkt, die gerade von Brustkrebs genesen ist, als Zeichen der Hoffnung und Zukunft.
Ohne Ideen aufzuzeichnen oder Berechnungen anzustellen, holt Agudelo aus dem Stein, was er in ihm sieht. Manche Skulpturen haben daher etwas Skizzenhaftes, sind halb Stein, halb Figur, teils ausgearbeitet, teils angedeutet: „Wie das Leben, das nie vollkommen ist, immer im Werden.“ Andere Arbeiten sind wiederum sehr figürlich, farbig, konkret: „Mein Stil kommt aus Südamerika, wo ich aufgewachsen bin. Ich stamme aus einer Holzschnitzerfamilie in Kolumbien.“ Dass die Bildhauerei „seine Natur ist“, wie er sagt, war ihm aber nicht von Anfang an klar.

Foto: © Forum/Christoph Wider

Als Kind begeisterte Victor sich für die koreanische Kampfkunst Taekwondo. Er begann mit elf Jahren, hatte mit 17 den schwarzen Gürtel und damit die Stufe der Meister erreicht. Danach war er zwei Jahre in seiner Kategorie kolumbianischer Meister, weitere zwei Jahre sogar Südamerika-Meister. „Am Taekwondo fasziniert mich bis heute die geforderte Selbstbeherrschung, die Kraft, die aus dem inneren Gleichgewicht kommt, und die Überwindung der Angst vor dem Stärkeren“, erklärt er. „Das sind Haltungen, die durch den Sport tief in mir verankert sind und mir in vielen Lebenslagen helfen.“ Nicht nur das: Wo immer sein Lebensweg ihn hinführte, hat Victor Agudelo Taekwondo-Lektionen gegeben und so auch vielen anderen geholfen, ihre innere Kraft zu entdecken und zu entfalten. „Jetzt mit 60 Jahren werde ich mich ein wenig zurückziehen“, sagt er. In Baar, wo er jetzt wohnt, werden zwei jüngere „Schwarzgurte“ seine Aufgaben übernehmen.
Beruflich fasste Agudelo zunächst die Musik ins Auge und studierte in seiner Heimat Gitarre. Als er mit 21 Jahren nach Italien in die Fokolar-Siedlung Loppiano bei Florenz kam, gab er Kindern einer Grundschule im Nachbardorf Gitarren-Unterricht und verdiente so seinen Lebensunterhalt. Geprägt hat ihn in dieser Zeit aber die Zusammenarbeit mit dem Künstler Ciro, Roberto Cipollone. Als dessen Assistent begann der Kolumbianer, sein Bildhauer-Talent auszuleben und zu verfeinern. Was ihn dazu brachte, später in Florenz drei Jahre Bildhauerei zu studieren. Manche Figuren von Victor Agudelo zeigen auch heute noch die innere Verwandtschaft mit Ciro, der vor allem in Abfall-Materialien eine ganz eigene Poesie sieht und daraus neue Kreationen schafft.

Foto: © Forum/Christoph Wider

Doch noch einmal gewann die Musik die Oberhand in seinem Leben. Drei Jahre war Victor Agudelo mit der Musikband der Fokolar-Bewegung, Gen Rosso, auf Tournee. „In dieser Zeit wurde ich ein Stückweit Weltbürger“, erinnert sich Agudelo. Nicht nur, weil sie in aller Welt auftraten, sondern auch, weil in dieser Band Künstler aus allen Kontinenten zusammenleben und -arbeiten „mit Musik, Tanz, Choreographie“. Aus diesen Jahren sei ihm die Erfahrung geblieben, „mit welcher Kraft die Musik Jesus bezeugen kann.“
Ob Musik oder Bildhauerei, in Kolumbien oder Italien, hinter all seinen Erfahrungen steckt eine tiefe Sehnsucht nach einem Leben mit Gott. Deshalb machte Victor sich zuerst auf den Weg zum Leben in einer Fokolar-Gemeinschaft. Hier wollte er mithelfen, den Traum Jesu zu verwirklichen, den dieser in seinem Abschiedsgebet ausgedrückt hatte: „Vater, gib, dass alle eins seien“ (Johannes 17,21). Aber schon bald wurde dem jungen Mann klar: Er ist ein Familienmensch, und er wollte sein spirituelles Leben in dieser Lebensform teilen. Sein Wunsch – und auch sein Gebet darum – wurde erhört: Er traf seine Frau Patrizia, eine Tessinerin, und ist so in der Schweiz gelandet.
„Dass man in der Familie alles miteinander teilt und Mann und Frau gemeinsam entscheiden, habe ich in meiner Jugend in Kolumbien nicht erlebt“, beschreibt Agudelo. „Da hatte der Vater die Macht und die Autorität. Daher sagten auch alle, dass eine Ehe zwischen einem Latino und einer Schweizerin nicht funktionieren wird.“ Und einfach sei es tatsächlich nicht immer gewesen, „aber wir haben uns immer wieder gefunden.“ Agudelo findet, die Schweiz sei privilegiert mit ihrer langen Geschichte der Demokratie und wollte so von Anfang an das gemeinsame Entscheiden in der Familie bewusst lernen und einüben. Denn: „Die schönste Kunst ist die Familie.“

Foto: privat

Seine eigene künstlerische Arbeit stellt der Kolumbianer bis heute hintan, um den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen. So arbeitete er zunächst in einem Restaurations-Unternehmen. Diese Arbeit nahm ihn aber – nebst der Familie – derart in Beschlag, dass er keine Zeit mehr für sein Leben der gemeinschaftlichen Spiritualität fand, was ihm aber nach wie vor wichtig war. Auch weil es ihm hilft, offen zu sein für das, was Gott von ihm und seinem Leben möchte. „Ich sagte zu Gott: ‚Wenn du mein Engagement möchtest, musst du mir eine neue Arbeit zeigen.’“ Als Ausländer war das gar nicht so einfach – bis sich ihm die Gelegenheit bot, als Hilfskoch im „Dialoghotel Eckstein“ anzufangen. Damit verdient er auch heute noch sein Auskommen: Seit 1997 wohnt er mit seiner Familie auch in Baar – ganz in der Nähe seines Arbeitsplatzes.
Mit seiner Teilzeit-Anstellung bleiben ihm genug Zeit und Raum für seine Kreativität. So können seine Skulpturen entstehen, wie die Steine es herausfordern. Agudelo macht aber auch Auftragsarbeiten oder fertigt Grabsteine. Sein eigener Grabstein steht schon seit 27 Jahren bereit, vor dem Atelier. Damals, mit 33 Jahren, hat er aus einem großen Stein den Kopf des gekreuzigten Jesus gehauen, der Mund offen im Schrei „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Matthäus 27,46), die angedeuteten Arme ausgebreitet. „Das ist mein Lieblingsstück“, erklärt der Künstler. „Es gibt viel Schönes im Leben, aber auch Krieg, Klimanotstand, Gewalt überall, so viele Fragen und Probleme. Jesus drückt in seinem Schrei am Kreuz all diese Not aus. Das ist für mich ganz tief.“ So tief, dass Agudelo zum auferstandenen Jesus viel schwerer Zugang fand. Vor Jahren hatte Chiara Lubich, die Gründerin der Fokolar-Bewegung, seinem Atelier spontan den Namen „Risorto – Auferstandener“ gegeben. „Ich konnte mit diesem Namen nichts anfangen“, erinnert sich Victor Agudelo. Bis er 2014 schwer an einem Tumor erkrankte. „Ich hatte Angst, dachte: ‚Jetzt ist mein Leben fertig.’ Nach der Operation spürte ich plötzlich: Das ist ein Herzstillstand. Ich bin am Ende.“ Victor Agudelo wird still, scheint in sich hineinzuschauen und wieder die Erschütterung dieses Moments zu spüren. „Einerseits war ich ruhig und sagte: ‚Gott, ich übergebe dir meinen Geist.’ Andererseits dachte ich: ‚Es ist zu früh. Ich habe heranwachsende Söhne, und ich möchte noch Großvater werden!’“ Dann nahm er die Bemühungen der Ärzte wahr, ihn zu reanimieren und „plötzlich spüre ich einen heftigen Schlag und paff! war ich wieder im Leben.“ Da habe er zum ersten Mal verstanden, was „auferstanden“ bedeutet. Die folgenden drei Monate habe er nicht arbeiten können, „aber ich fühlte mich ausgeglichen, im Gleichgewicht, fast möchte ich sagen: in perfekter Harmonie. Jesus hatte mir das Leben neu geschenkt.“ In der zeit danach sind einige Skulpturen entstanden, die diese prägende Erfahrung widerspiegeln.

Foto: © Forum/Christoph Wider

Beim Rundgang durchs Atelier weiß Agudelo eine Geschichte zu jedem der zahlreichen Stücke zu erzählen. Ein Christus-Kopf, halb dunkel, halb golden – Tod und Auferstehung. Ein zarter Frauenkopf – „das ist meine Mutter“, erklärt er. Noch bevor er ganz genesen war, starb sie in Kolumbien. „Zum Glück war ich einige Monate vorher noch bei ihr gewesen.“ Zu ihrer Beerdigung wurde er im Rollstuhl gefahren, da er nach der Operation noch nicht gehen durfte.
Am Anfang meiner Zeit hier hatte ich schon Heimweh. Ich bin voller Farben und Sonne und ich liebe das Leben“, sagt Victor Agudelo über seine kolumbianischen Wurzeln. Die Sorgen seines Heimatlandes haben ihn aber auch belastet, vor allem in der Zeit vor seiner Krankheit. Nun, mit 60 Jahren, konnte er erstmals der Mutter und der Schwester seiner Frau auf einer gemeinsamen Reise sein Land zeigen.
Wenn Agudelo auf sein künstlerisches Wirken schaut, freuen ihn besonders einige Ausstellungen, die er zusammen mit anderen Künstlern und Künstlerinnen aus dem Umkreis der Fokolar-Bewegung realisiert hat. „Da habe ich gemerkt, dass nicht nur die Musik, sondern auch Bilder und Skulpturen ein gemeinsames Zeugnis für Jesus, der durch die Liebe unter uns erfahrbar wird, sein können.“
Und sein nächstes Projekt steht auch schon: eine Ausstellung 1 seiner Skulpturen im ‚Dialoghotel Eckstein’. Neben seinen behauenen Steinen werden auch Fotografien seiner Frau Patrizia ausgestellt: Mit ihren Bildern hat sie viele seiner Werke, die verkauft oder verschenkt sind, festgehalten und ins beste Licht gesetzt. Aber auch ganz eigene Bilder eingefangen – und so will Victor Agudelo „mit dieser Ausstellung auch ihr danke sagen.“
Beatrix Ledergerber

1) Die Ausstellung ist von 23. September bis 12. November 2023 täglich von 8 bis 18 Uhr zu sehen im Dialoghotel Eckstein in Baar.


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, September/Oktober 2023.
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