5. Oktober 2023

Singles sind keine Exoten

Von nst5

Die meisten Singles sehen sich selbst in einer Übergangsphase.

Diese hat jedoch einen hohen Wert. Die Religionspädagogin Annegret Reese-Schnitker rät, dass wir uns fragen: „Welche Fähigkeiten bilden Menschen in dieser Zeit aus?“, „Welche Herausforderungen meistern sie?“ und „Was können wir von ihnen lernen?“

Frau Reese-Schnitker, Single-Sein wird oft als ein zu überwindender Status angesehen, als eine Situation, in der ein Mensch noch nicht oder nicht mehr in einer Beziehung lebt. Gibt es eine positive Beschreibung des Lebensstandes Single?
Um darauf antworten zu können, scheint es mir wichtig zu klären, wer denn überhaupt gemeint ist, wenn wir von Singles sprechen.

Wer ist gemeint?
Der Begriff Single meint Menschen, die alleinstehend sind und allein wohnen. Das trifft auf Menschen in ganz unterschiedlichen Situationen und mit verschiedenen Lebensentwürfen zu. In der öffentlichen Wahrnehmung sind Singles Menschen um die 30, die das Single-Sein als frei gewählte, selbstbewusste Lebensform gestalten. Das ist aber nicht die Regel.

Sondern?
Selbst unter den Singles in dieser Altersstufe gibt es große Unterschiede: Einige waren noch nie in einer Partnerschaft, andere haben eine oder mehrere Trennungen hinter sich; einige sind zufrieden mit ihrer Lebenssituation, andere sind auf der manchmal auch verzweifelten Suche nach einer Partnerin oder einem Partner.
Und dann gibt es viele Singles unter den älteren Menschen: Manche haben immer allein gelebt, manche haben sich aus einer Partnerschaft gelöst, manche sind verwitwet. Das sind wieder andere Lebenssituationen.
Manchmal werden auch Alleinerziehende zu den Singles gezählt. Das sehe ich nicht so. Wenn man nicht alleine wohnt und verantwortlich ist für Kinder, spielen wieder ganz andere Bedingungen eine Rolle.

Zurück zur Eingangsfrage: Ist Single-Sein mehr als nur ein „noch nicht“ oder „nicht mehr“?
Ja! Es ist deutlich mehr. Und das, obwohl in der Altersstufe der 35- bis 50-Jährigen die allerwenigsten Singles dauerhaft als solche leben möchten. Die gibt es zwar auch. Aber die meisten sehen sich selbst in einer Übergangsphase.
Dennoch wäre es verkürzt und irreführend, das Single-Sein auf etwas zu beschränken, das fehlt oder noch fehlt. Wie schnell heißt es dann: „Der Arme! Die Arme! Die sind bestimmt einsam; die konnten sich ihre Wünsche nicht erfüllen; die erhoffen sich eigentlich ein anderes Leben und sind sicher unglücklich.“ Mitleid ist sicher die falsche Haltung.

Was empfehlen Sie stattdessen?
Es geht darum, eine positive Sicht auf diese Lebenssituation zu entwickeln. Auch wenn sie als Übergangszeit gedacht ist, hat sie doch einen Wert an sich. Wir sollten uns fragen: „Welche besonderen Fähigkeiten bilden solche Menschen aus?“ – „Welche Herausforderungen meistern sie?“ – „Was können wir von ihnen lernen?“ Das ermöglicht einen wertschätzenden, einen dialogischen Umgang mit ihnen.

Was können wir denn lernen?
Singles leben selbstreflektiert. Sie überlegen genau, was sie tun und warum sie es tun. Singles sind häufig sozial engagiert. Sie versuchen, mit ihrem Leben etwas zu machen, das die Welt ein wenig besser macht. Singles sind – und das mag auf den ersten Blick überraschen – deutlich stärker sozial vernetzt als Menschen, die in einer Familie leben. Sie können ja ihre Bedürfnisse nach Nähe, nach Austausch, nach Alltagskommunikation nicht nur auf eine Person oder wenige Personen konzentrieren. Sie haben deshalb oft eine ganze Reihe von Freundinnen und Freunden und pflegen diese Beziehungen sehr aufmerksam.

Und was sind die Herausforderungen?
Wir leben in einer paarorientierten oder familienorientierten Gesellschaft. Obwohl Singles ein Drittel der Bevölkerung ausmachen – in Großstädten manchmal sogar mehr als die Hälfte – sind sie häufig nicht im Blick. Ganz besonders zeigt sich das bei der Gestaltung von Festen oder der Urlaubsplanung. Familien haben da oft Routinen entwickelt. Man fährt immer auf die gleiche Urlaubsinsel. An Weihnachten ist man am Heiligabend in der eigenen Familie, und am ersten und zweiten Feiertag besucht man die Eltern und Schwiegereltern. Das ist bei alleinlebenden Menschen nicht so. Sie müssen sich jedes Mal wieder neu überlegen, was sie in dieser Zeit machen.
Manchen gelingt das gut. Anderen nicht, weil sie gerade bei diesen Gelegenheiten besonders stark damit konfrontiert werden, dass sie allein sind. Wenn das für sie ein Status ist, den sie sich nicht ausgesucht haben, dann kann das zu Einsamkeit und zu schweren Zeiten führen.

Was ist ein angemessener Umgang mit Menschen in so einer Situation, ohne überfürsorglich oder aber gefühlskalt zu werden?
Vor allem geht es um Feinfühligkeit: nicht automatisch davon auszugehen, dass alle in einer Partnerschaft leben, oder dass familiäre, kirchliche und gesellschaftliche Traditionen für alle selbstverständlich sind. Wenn man eine Offenheit entwickelt, Anteil zu nehmen, mit ihnen über ihr Erleben zu sprechen, ohne gleich helfen zu wollen oder gute Ratschläge zu erteilen, dann ist schon viel gewonnen.

Was aber, wenn Menschen erkennbar unglücklich mit ihrer Situation sind?
Auch hier gilt es, behutsam zu sein und zu erkennen, ob diese Person einfach nur jemanden braucht, der da ist, oder jemanden, der sie ermutigt, wieder in Situationen hineinzugehen, wo man jemanden treffen kann, oder aber jemanden, der ihr zeigt, welches die Chancen der aktuellen Situation sind.

Gibt es Unterschiede zwischen Singlefrauen und Singlemännern?
Historisch gesehen war das Alleinleben lange Zeit nur für Männer möglich. Frauen waren dem Mann oder dem Haushalt unterstellt.
Heute ist es so, dass Singlefrauen meistens einen höheren Bildungsstand haben als Singlemänner. Ein Erklärungsversuch dafür ist, dass gebildete Frauen nur selten Männer mit einem niedrigeren Bildungsstand wählen. Das führt langfristig dazu, dass gebildete Frauen häufiger keinen Partner finden.
Auffällig ist auch, dass Singlefrauen zufriedener sind als Singlemänner. Offenbar kommen sie häufiger besser damit klar, für sich selbst Sorge zu tragen. Vor allem nach Trennungen fällt es Männern deutlich schwerer, allein zurechtzukommen. Frauen sagen auch eher als Männer, dass sie zwar gerne in einer Partnerschaft leben möchten, aber nicht unter allen Umständen.
Schließlich müssen sich Singlefrauen mehr dafür rechtfertigen, wenn sie allein leben. Ihnen wird eher Egoismus vorgeworfen als Männern.

Sie haben sich ausführlich mit der Religiosität von Singles befasst. Welche Angebote sollten die Kirchen ihnen machen?
Auch für viele Gemeinden gilt, dass sie Singles nicht im Blick haben. Wenn ein Gemeindeprogramm nur auf Familien ausgerichtet ist, dann blendet es mindestens ein Drittel der Bevölkerung aus.
Eine Kirche oder eine Gemeinde sollte bei jeder Veranstaltung mitbedenken, dass es nicht nur Familien, sondern auch Alleinstehende gibt. Wenn Singles merken, dass sie gesehen werden, werden sie eher auch gezielte Angebote annehmen – etwa eine Veranstaltung zur Frage nach der Zukunft. Sie ist ja bei Singles oft mit Ängsten verbunden, weil sie eine viel größere Unsicherheit haben als Menschen, die in einer Paarbeziehung leben.

Und in der Liturgie?
Sie bietet selbstverständlich auch eine Chance, sensibel zu sein. In jedem Gottesdienst gibt es kleine Gebete oder Verse. Oft richten sie sich nur an Familien. Da kann jeder im Altarraum aufmerksam sein.
Außerdem sollte sich eine Gemeinde bewusst machen, dass für Singles nach der Firmung bis zur Krankensalbung kein Sakrament mehr vorgesehen ist, das Übergänge begleitet. Könnte es nicht auch für Singles eine Möglichkeit geben, solche Momente zeichenhaft zu begleiten?

Haben Sie eine Vorstellung, wie das aussehen könnte?
Könnte man auch Freundschaften von Menschen segnen, die sich gegenseitig stützen? Einen Berufswechsel oder den Eintritt in das Rentenalter? Einen Umzug?

Sagt der Anteil von Singles etwas über die jeweilige Gesellschaft aus?
Positiv gedacht, könnte eine hohe Zahl von Singles darauf hinweisen, dass diese Gesellschaft der Freiheit, Freundschaft und Vielfalt einen hohen Stellenwert beimisst. Und wo es viele Singlefrauen gibt, könnte die Emanzipation weiter fortgeschritten sein. Aber das sind eher Vermutungen; da müsste man eine größere Zahl von Aspekten berücksichtigen, nicht nur den prozentualen Anteil an Singles. Eine spannende Frage jedenfalls.
Eines ist mir wichtig: Vor hundert Jahren gab es keine Singles – jedenfalls nicht als gesellschaftliche Erscheinung. Wir reden von einer neuartigen Lebensform, die heutzutage eine große Anzahl von Menschen aus guten Gründen zumindest für eine Zeit lang bewusst wählt. Singles sind keine Exoten. Und sollten deshalb auch nicht so gesehen oder gar behandelt werden.

Vielen Dank für das Gespräch.

Peter Forst

Foto: privat

Annegret Reese-Schnitker, geboren 1969 in Göttingen, hat Katholische Theologie in Bonn und Grundschullehramt in Köln studiert. 2005 promovierte sie in Katholischer Theologie. Bevor sie 2011 zur Professorin an der Universität Kassel ernannt wurde, arbeitete sie zehn Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Duisburg-Essen und ein Jahr als Juniorprofessorin an der Universität Osnabrück. Sie ist verheiratet und hat eine Tochter und einen Sohn. In der Single-Forschung liegt ihr Schwerpunkt auf den Lebenswelten und der Religiosität von Singlefrauen.



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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, September/Oktober 2023.
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