5. Dezember 2023

Von Herz zu Herz

Von nst5

Seit Ausbruch des Krieges geht Rita und Antonia Brusa aus der Schweiz das Leid der Menschen in der Ukraine nahe.

Zusammen mit Verwandten und Freunden setzen sie eine Menge Hebel in Bewegung, um konkrete Hilfe zu bringen.


Medizinisches Material, Hygieneartikel, Stromgeneratoren, Babynahrung: Mitte September hat die Schweizer Initiative „Engagiert mit Herz“ zum dreizehnten Mal seit Kriegsbeginn mit Kleintransportern Hilfsgüter an die ukrainische Grenze gebracht: eine Strecke von rund 1 500 Kilometern, mit dreieinhalb bis vier Tonnen Material im Gepäck. „Das ist im Vergleich zu einem vollen Lastwagen nicht sehr viel. Der Inhalt jeder Kiste ist aber sehr hochwertig. So können wir den Überblick behalten und eine hohe Qualität der Hilfsgüter garantieren“, erklärt Antonia Brusa. Die 31-Jährige aus Emmenbrücke im Kanton Luzern hat sich mit ihrer Mutter schon kurz nach dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine um eine erste Hilfslieferung gekümmert.
Beide hatten zuvor keinerlei Bezug zur Ukraine. Dennoch ließ ihnen die Vorstellung, welche Ängste und welche Not der Krieg dort auslösen mag, keine Ruhe: Sie wollten nicht bloß spenden, sondern die Ärmel hochkrempeln! „Ich kann Kleinbusse fahren“, dachte sich Rita Brusa, 61, die in Grosswangen lebt. „Ich könnte Hilfsgüter bringen.“ Über die sozialen Medien verfolgten Antonia und Rita Brusa, dass andere Schweizerinnen und Schweizer ähnlich dachten und sich Hilfsaktionen anschließen wollten. Weitere waren bereit, ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen, und suchten Wege, um sie in die Schweiz zu bringen.

Vorbereiten eines Transports: Rita Brusa, Antonia Brusa und Leonie Hersche verpacken, wiegen und beschriften die Hilfsgüter.
Alle Fotos: (c) Engagiert mit Herz

Bei einer Geburtstagsfeier kam Rita Brusa darüber mit einer Schwägerin ins Gespräch. Die begann gleich mitzudenken: „Ich kenne den Priester der griechisch-katholischen ukrainischen Gemeinde in Zürich. Der hat Verwandte, die vor dem Krieg in die Schweiz fliehen wollen. Und er hat schon begonnen, Lebensmittel und Kleidung zu sammeln.“
Schon bald waren sie zu sechst. Sie traten mit dem Priester in Verbindung, der ihnen auch Kontaktpersonen in der Ukraine vermittelte, und teilten sich die Aufgaben auf: Abladeort für die Güter festlegen, für Verpflegung unterwegs sorgen, Route planen, Papiere für den Zoll vorbereiten, Wetterverhältnisse checken… Rita fragte bei ihrer Autowerkstatt an, ob sie einen Kleinbus zur Verfügung stellen könne: „Das hat wunderbar geklappt. Bis heute helfen sie uns dort immer wieder, wenn wir Fahrzeuge brauchen.“ Über ihren WhatsApp-Status bat Rita um Spenden. „Wir benötigten 1 400 Franken Benzingeld, um die Fahrt überhaupt durchführen zu können. Über Freunde kam das Geld rasch zusammen.“ Nur drei Tage, nachdem sich die Gruppe gefunden hatte, und fünfzehn Tage nach Kriegsbeginn waren sie schon unterwegs zur polnisch-ukrainischen Grenze.

“Engagiert mit Herz” hat diesen Transporter erworben und den ukrainischen Partnern übergeben. Sie verteilen mit ihm die Hilfsgüter im Land.

Mittlerweile ist „Engagiert mit Herz“ mit vier Priestern der griechisch-katholischen Diözese Uschgorod in Kontakt. Sie selbst oder ihre Kontaktpersonen kommen mit Transportern zu einem vereinbarten Treffpunkt außerhalb der Ukraine, nahe der Grenze. Dort wird die Ladung umgepackt. Wie schon beim Beladen in der Schweiz ähnelt es einem dreidimensionalen Puzzlespiel, die vielen Pakete in den Fahrzeugen unterzubringen. Jeder freie Raum wird genutzt. Die Kontaktpersonen bringen die Güter in zerstörte Regionen und bis an die Front.

Babybetten und Windel kommen in der Geburtenabteilung eines Krankenhauses in der Ukraine an.

Dreizehn solche Fahrten hat „Engagiert mit Herz“ nun schon unternommen, oft mit jeweils drei oder vier Fahrzeugen. In den ersten Kriegsmonaten nahm das Team auf dem Rückweg Flüchtlinge mit in die Schweiz, fast ausnahmslos Frauen mit ihren Kindern und Haustieren. Ihre Männer, Brüder, Väter, Söhne im Alter von achtzehn bis sechzig Jahren waren eingezogen worden. Sowohl mit ihnen wie auch mit ihren künftigen Schweizer Gastfamilien hatte das Team schon zuvor Kontakt aufgenommen. Die Frauen und Kinder sollten sich auf der Fahrt in die Fremde sicher fühlen und behütet ankommen. Denn schon kursierten Nachrichten von Kriminellen, die die Notsituation ausnutzten und Menschen verschleppten.
Sich finden im Chaos der Flüchtlingslager, bewegende Abschiedsszenen, das Sirenengeheul vom Raketenalarm: kein Wunder, dass nach dem Zustieg in die Kleinbusse Anspannung zu spüren war. Im Lauf der Fahrt fiel sie langsam ab. Die unmittelbaren Kriegsgefahren lagen hinter den Geflüchteten. Sie wurden mit warmen Getränken und belegten Semmeln versorgt. Auf Raststätten spielte man zusammen. Englisch-Kenntnisse und Übersetzungs-Apps halfen, sich einigermaßen zu verständigen.

In einer Kirche in Cherson nehmen Menschen Hilfspakete von “Engagiert mit Herz” entgegen und verteilen sie weiter.

Die Emotionen schlagen dann wieder hoch und manche Träne fließt, wenn die Flüchtlinge ihre Gastfamilien treffen. „Die dankbaren Gesichter, wenn sie nach zwanzig Stunden Fahrt endlich an einem Ort ankommen, wo sie sicher und in Frieden leben können – unvergesslich!“ Dann fällt auch von den Fahrerinnen und Fahrern langsam die Last der Verantwortung ab.
Das Engagement für die Ukraine verlangt Antonia und Rita einiges ab. „Zuweilen bin ich in ständiger Bereitschaft gewesen“, erzählt Rita. „Täglich sind Leute gekommen und haben Schlafsäcke, Decken oder andere Dinge gebracht.” Das hat abgenommen, seitdem vermehrt Firmen und Institutionen bereits fertig verpackte Waren zur Verfügung stellen. „Aber fast jeden Tag gibt es Organisatorisches zu erledigen, Güter für den Transport vorzubereiten, Anfragen zu beantworten.” Antonia hat sogar ihre Arbeit auf einer Berghütte gekündigt und für ein halbes Jahr nur noch für die Ukraine-Initiative gearbeitet. Inzwischen hat sie wieder einen 70-Prozent-Job. Da die gesamte Organisation über Smartphone läuft, kommt sie kaum zur Ruhe. „Manchmal muss ich mir ganz bewusst Zeit für mich nehmen und das Handy zur Seite legen.“
Für die Mühe entschädigen die dankbaren Rückmeldungen aus der Ukraine und die selbst gemalten Kinderbilder. „Dank der Briefe, der Erlebnisse an der Grenze, der Gespräche mit den Kontaktpersonen und Geflüchteten bekommen wir viel direktere Einblicke als durch die Medienberichte!“

Mit diesem Foto erreichte “Engagiert mit Herz” folgende Rückmeldung: “Ein verlassenes Kind ohne Eltern im Krankenhaus. Milch getrunken und schläft jetzt gut. Wir danken Ihnen!”

Die Ukraine-Hilfe soll kein Aktionismus sein. Der persönliche Blick für die Empfänger ist Rita wichtig: „Einmal hat sich über unsere Webseite eine Frau aus der Ukraine gemeldet. Jetzt gibt sie uns oft Tipps, was speziell ältere Menschen oder Babys nötig haben. Mit ihr habe ich von Großmutter zu Großmutter Kontakt. Wenn sie mir schreibt, will ich unbedingt antworten, auch wenn das mit Übersetzungshilfe viel Zeit in Anspruch nimmt.“ Immer wieder ist Rita auch mit einem Soldaten im Austausch. Mal schickt er ein Foto, mal schreibt er, wie es ihm geht. „Der direkte Draht zu den Menschen unterstützt mich innerlich. Es zeigt mir: Unser Einsatz kommt an, wird gebraucht. Die Ukrainer brauchen auch Zuwendung, die ich auf diese Weise geben kann.”
Ebenso persönlich sorgt ihr Team für die Kontaktpersonen, Helferinnen und Helfer in der Ukraine, die die Güter verteilen. Ihnen bringen sie jedes Mal kleine Geschenke mit: Ein spezielles Brot, Schweizer Käse, Schweizer Schoki – oder letztes Jahr zu Weihnachten Raclette-Öfchen samt Käse und Zutaten.
Zwei ukrainische Jugendliche, 16 und 18, Kinder eines der griechisch-katholischen Priesters, waren in den Sommerferien für drei Wochen bei Rita zu Gast – und haben kräftig mit angepackt. Im Oktober war das Team erstmals selbst in Uschgorod, um die Menschen zu besuchen, mit denen sie nun schon so lange intensive Beziehungen pflegen. Und im November sollen mit den nächsten Hilfstransporten wieder kleine Weihnachtsgeschenke dabei sein. Im letzten Jahr hatten sie unter anderem kleine Kerzen gebastelt, bei denen am Boden ein ukrainischer Spruch sichtbar wurde, wenn sich das Wachs verflüssigt: 1 100 kleine Lichter in der Dunkelheit.
Clemens Behr

„Engagiert mit Herz“

Die ersten Fahrten haben Antonia und Rita Brusa sowie Severin Erb, Antonias Partner, mit Freunden unternommen. Seit der sechsten Fahrt nennt sich die Schweizer Gruppe „Engagiert mit Herz“ und startete eine eigene Webseite. Die sieben Personen, zu denen weitere Helferinnen und Helfer stoßen, sammeln und transportieren ehrenamtlich Hilfsgüter, um das Leid der Menschen in der kriegsgeplagten Ukraine etwas zu lindern. Ihre Solidarität soll kein Aktionismus werden: Daher bleibt die Initiative klein und privat. Alles läuft auf der Basis gegenseitigen Vertrauens über persönliche Beziehungen. So wird nur gebracht, was tatsächlich gebraucht wird.
www.engagiert-mit-herz.ch


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, November/Dezember 2023.
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