5. Februar 2024

Ein Aufsteigen der Nacht am frühen Morgen

Von nst5

Der 7. Oktober 2023 war kein Tag wie jeder andere.

Eine Nachbetrachtung.

Der 7. Oktober 2023 war kein Tag wie jeder andere. Terroristen der palästinensischen Hamas überfielen die Bewohner der Kibbuzim und Teilnehmer an einem Rave-Festival im Grenzgebiet Israels zum Gazastreifen. Es war ein Tag voll unerträglicher Bilder von der Schändung, Enthauptung, Tötung unschuldiger Opfer: Neben der besonderen Obszönität, mit der die Hamas diese Verbrechen triumphierend im Netz zur Schau stellte, löste die Tatsache Bestürzung aus, dass diese Ausschreitungen von „Allahu akbar!“ – „Gott ist groß!“-Rufen noch befeuert wurden. Hier zeigte sich der blasphemische Terror der Frommen: die Überzeugung, dass die anderen, Andersgläubigen des Teufels und also zu vernichten sind; dass es jede zivilisatorische Hemmung zu verlieren, ja sich in einen Blutrausch hineinzusteigern galt, einen archaischen Exzess, der uns aufgeklärte Zeitgenossen zutiefst beunruhigen, irritieren, entsetzen muss.  
Seit jenem Datum hat sich eine komplexe Lage – ein militärisches wie moralisches Dilemma – entwickelt, aus der alle Beteiligten eigentlich nur als Verlierer hervorgehen können: Je tiefer die israelischen Streitkräfte bei ihrem – grundsätzlich vom Recht auf Selbstverteidigung gedeckten – Vorgehen gegen die Hamas in den Gaza-Streifen eindringen, desto offensichtlicher sind sie einem unsichtbaren Gegner ausgesetzt, der eine ganze Bevölkerung gewissermaßen in Geiselhaft genommen hat und als Schutzschild missbraucht, der sämtliche soziale Infrastrukturen des Landes – Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser und Moscheen – untertunnelt und in Gefechtsstände beziehungsweise Kommandozentralen und Gefängnisse verwandelt hat.
Für die Terrororganisation geht es – daran lässt die „Hamas-Charta“ keinen Zweifel – um die Vernichtung des Staates Israel beziehungsweise aller Juden weltweit. Dafür nimmt sie gerade auch palästinensische Opfer in Kauf: So zynisch es klingen mag (und es ist in der Tat der blanke Zynismus, der aus diesem Kalkül spricht!): „Jeder getötete Zivilist in Gaza befördert die Sache der Hamas!“ Die weltweite Sympathie und Solidarität mit Palästina und der Terrororganisation zeigt, wie sehr die Differenzierung zwischen beiden gar nicht oder nur halbherzig, seltsam verdruckst vorgenommen wird. Sie schürt antizionistische beziehungsweise antisemitische Positionen und Einstellungen und hat – seit dem 7. Oktober – neue (und lange Zeit für unwahrscheinlich gehaltene) Bündnisse zwischen eher „linken“, globalisierungskritisch-säkularen Gruppierungen und den Anhängern des politischen Islams gestiftet.

ENTFESSELTE GEWALT
Was mich aber mit Blick auf diese komplexe Lage nun wirklich beschäftigt, ist die Frage nach der Bedeutung, der Tragweite dieses Datums, dieser Manifestation einer entfesselten Gewalt, die es zu verstehen gilt. Ich habe Geschichte studiert und dabei – fast unvermeidlich – gelernt, metaphysische Kategorien und Bezugsgrößen wie „das Böse“ weitgehend auszublenden oder zu relativieren: „Böse“ waren diesem Verständnis zufolge nur „Strukturen“, die menschlichen Fortschritt, das Streben nach Freiheit und Gleichheit unterdrückten. Fast immer bewegte man sich dabei auf der Höhe begrifflicher Abstraktionen und Verallgemeinerungen. Singuläre Ereignisse oder handelnde Personen traten gegenüber dieser eher „strukturgeschichtlichen“ Betrachtungsweise zurück. Zugleich wehrte man sich damit gegen die „Dämonisierung“ einzelner Akteure und Gruppen, was zweifellos auch eine gewaltige Errungenschaft bedeutete. Ansonsten aber ging es – fast mantraähnlich – um „Kontextualisierung“, die Rückbindung des konkreten, augenblickhaften Geschehens an übergreifende und anonyme Erzähl- und Geschichtsmodelle. 

Illustration: (c) klyaksun (iStock)

Diese „Kontextbildung“ als „Verabschiedung“ oder „Versachlichung“ des „Bösen“ lässt sich nun auch im Blick auf die Reaktionen, Kommentare und Analysen zu den Vorgängen am 7. Oktober beobachten. Tonangebend – in prominenten Einlassungen zum Thema wie bei dem slowenischen Philosophen Slavoj Zizek oder der amerikanisch-jüdischen Kulturwissenschaftlerin Judith Butler – ist eine in ihrem Bemühen um Sachlichkeit gegenüber den Opfern seltsam zurückhaltend, letztlich mitleidlos anmutende Haltung des „Ja, aber“.
Es geht also nicht um ein „richtig“ oder „falsch“ der hier vorgetragenen Argumente, sondern um die Frage, wie wir mit Ereignissen dieser Art umgehen. Reagieren wir empathisch, das heißt: lassen wir uns irritieren, stören beziehungsweise verstören in der Routine unserer historischen, religions- und gesellschaftsgeschichtlichen Erzählungen? – Mehr noch: Widerstehen wir damit der verbreiteten Neigung, verschiedene Opfer-Narrative der Palästinenser und Israelis gegeneinander aufzurechnen? – Überwinden wir unsere notorische „Unfähigkeit zu trauern“ und richten – gemeinsam mit den Opfern, aus ihrer Perspektive – einen Blick auf die Formen des Terrors, in denen sich das „Böse“ an jenem Tag in perfider Originalität gezeigt hat? – Und unterscheiden wir tatsächlich und ausdrücklich zwischen der „Hamas“ und den Bewohnern des Gaza-Streifens, indem wir schließlich sowohl das unbedingte Recht Israels auf Selbstverteidigung als auch die Forderung nach dem Schutz der palästinensischen Zivilbevölkerung bekräftigen? 
Die jüdische Denkerin Hannah Arendt sprach einst von der unverfügbaren Wirkmacht des „Bösen“, mit der es – in Geschichte und Gegenwart – immer zu rechnen gelte. Nicht um ihr zu erliegen, sondern zu widerstehen. Es gehört zu den Paradoxien moderner Gesellschaften, diese Wirklichkeit des Bösen auszuschließen, nicht wirklich ernst zu nehmen, zu parodieren, zu verdrängen und zu vergessen, oder sie doch nur rational-aufklärerisch auszuleuchten. Doch steht am Ende die bittere Erfahrung, dass dieses Böse jedes Mal und immer machtvoller zurückkehrt, ja niemals aufhört, die Innenräume unserer Gesellschaften heimzusuchen.

GESICHTER UND NAMEN
So habe ich den 7. Oktober erlebt: als einen Tag, da die Terroristen wie seltene Todesvögel an ihren Paragleitern aus einem vermeintlich heiteren Himmel über dem Festivalgelände in der Wüste Negev einschwebten und ein beispielloses Massaker unter den jungen Ravern anrichteten. Seither träume ich manchmal schwer. Dann wird mir bildhaft klar, worauf die Rede von der „Transparenz des Bösen“ (Jean Baudrillard) eigentlich zielt: eine Ankunft des Dunkels mitten in taghellem Licht, ein Aufsteigen der Nacht am frühen Morgen, der Einbruch von Tod, Gewalt und Verschleppung in die Feier eines in seiner Arglosigkeit noch unerfahrenen Lebens, seiner für allzu selbstverständlich gehaltenen Verheißungen – unter den sanft entrückten Augen der das gesamte „Supernova“-Festival überblickenden Buddha-Statue. Dann sehe ich ihre Gesichter vor mir, sind mir ihre Namen wieder gegenwärtig: Noa, Avinatan, Shani … und ich werde wieder wach, umhüllt von nächtlicher Verlorenheit. Und dann weiß ich nicht mehr, wohin mit meiner Trauer, meinem Zorn, meiner Liebe, meiner Angst. 
Herbert Lauenroth

Herbert Lauenroth, geboren in Göttingen, lebt und arbeitet am Ökumenischen Lebenszentrum Ottmaring, gehört dem Internationalen Leitungsteam des „Miteinander für Europa“ und dem Studienzentrum der Fokolar-Bewegung an.


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Januar/Februar 2024.
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