Mückenstiche
Auch Menschen, die sich für offen und tolerant halten,
sind nicht vor alltäglichem Rassismus gefeit. Eine Einladung.
„Du bist ein Rassist!“ Ich kann mir kaum einen anderen Vorwurf vorstellen, den ich so entschieden, ja entrüstet von mir weisen würde wie diesen. Wer will schon als Rassist gelten? Ich jedenfalls nicht. Schließlich bin ich in einer christlich geprägten Gemeinschaft, der Fokolar-Bewegung, aufgewachsen, zu der Menschen aller Länder und Kulturen gehören und zu der sich Angehörige vieler Konfessionen und Religionen zählen. 1990/91 habe ich zwei Jahre mit etwa 80 jungen Männern aus mehr als 20 Ländern in den Fokolar-Siedlungen Loppiano (Italien) und Montet (Schweiz) verbracht. Mit einem von ihnen, einem Fliesenleger aus dem westafrikanischen Benin, habe ich eines dieser beiden Jahre als Hausmeister in einem Studentenwohnheim gearbeitet. Ohne seine ausgeprägten handwerklichen Fähigkeiten wäre ich verloren gewesen. Also, ein Rassist bin ich nicht!
Vermutlich werden viele, die diese Zeilen lesen, das ähnlich empfinden. Und es stimmt ja: Wohl niemand unter den Leserinnen und Lesern der NEUEN STADT wird offen und ohne Scheu gezeigten Rassismus gutheißen oder gar ausüben, wie er kürzlich den Fußballern der deutschen U17-Nationalmannschaft entgegenschlug – und das, obwohl sie gerade Weltmeister geworden waren. Vielen sah die Mehrzahl der Spieler einfach nicht deutsch genug aus, als dass sie Deutschland auf der internationalen Bühne würdig vertreten könnten.
Dann aber gibt es den sogenannten Alltagsrassismus, dem wir das Schwerpunktthema dieser Ausgabe widmen. Rassismus bedeutet, Menschen wegen äußerer Merkmale – vor allem ihrer Herkunft oder Religion – abzuwerten und auszugrenzen. Mit Alltagsrassismus ist in der Regel ein unterschwellig praktizierter Rassismus in Unterscheidung zum offen geäußerten Rassismus gemeint. So wollen wir diesen Begriff auch hier nutzen.
Die deutsche Autorin Alice Hasters vergleicht die kleinen Momente des Alltagsrassismus mit Mückenstichen. In einem 2020 veröffentlichten Text schrieb die in Köln geborene Tochter einer schwarzen US-Amerikanerin und eines weißen Deutschen: „Kaum sichtbar, im Einzelnen auszuhalten, doch in schierer Summe wird der Schmerz unerträglich. Diese Mückenstiche haben einen Namen: Mikroaggressionen. … Das können Angriffe oder Beleidigungen sein, wie die Verwendung des N-Wortes oder Aussagen wie ‚Wir sind hier in Deutschland‘. Es können unbewusste Handlungen sein – etwa, wenn eine Frau ihre Tasche umkrallt, sobald ich mich in der Bahn neben sie setze.“ Auch das Verleugnen gehöre dazu oder das Absprechen der eigenen Perspektive und Erfahrungen: „Viele Menschen glauben mir nicht, wenn ich sage, dass manche Menschen Angst vor mir haben und mich für eine Diebin halten. … Wer vermeidet, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, kann sich immer mit Unwissenheit herausreden und jegliche Verantwortung damit zurückweisen.“
Weiter heißt es: „Nur, weil man sich nie bewusst Gedanken über Herkunft, Hautfarbe und Identität gemacht hat, läuft man nicht vorurteilsfrei durch die Gegend. Man bemerkt nur nicht, dass man diese Vorurteile hat. … Diese Unterschiede im Alltag zwischen weißen Menschen und Menschen, die von Rassismus betroffen sind, werden selten von Weißen bemerkt und adressiert. Denn in den meisten Fällen scheinen sie nicht der Rede wert zu sein.“
Doch sie können, so Alice Hasters weiter, schwerwiegende Folgen haben. Studien zeigten, dass Rassismuserfahrungen die psychische Gesundheit schädigen können. Rassismus löse Stress, Depressionen, chronische Erschöpfung und Wut aus und könne somit auch körperliche Beschwerden zur Folge haben.
Die Arbeit an diesem Heft hat mir gezeigt, dass ich sehr wohl gefährdet bin, rassistisch zu denken, zu reden oder zu handeln. Ich habe bemerkt, dass ich mir – gerade als Wohlmeinender, als jemand, der doch alle Menschen lieben will – eingestehen muss, dass gut gemeint und gut gemacht nicht das Gleiche ist. Dann – und dann erst – fällt mir etwa auf, dass ich mich in diesen Tagen beim Spaziergang mit einem Schwarzen Freund ein paarmal gefragt habe, was wohl die Leute denken – eine vermutlich völlig überflüssige, aber eben rassistische Frage.
„Courageous Conversations“ (Mutige Diskussionen) hat die Fokolar-Bewegung in den USA und Kanada eine Gesprächsreihe genannt, die sie 2020 und 2021 online angeboten hat. In der Einführung dazu heißt es: „Wir stellen fest, dass rassistische Spannungen auch innerhalb der Fokolar-Bewegung seit Jahren vorhanden sind; aber die davon betroffenen Menschen haben selten ein Forum gefunden, in dem sie ihren Schmerz ausdrücken konnten. Der Dialog ist ein Markenzeichen der Fokolar-Bewegung, aber wir sehen, wie herausfordernd und schwierig es sein kann, einen Dialog zu führen, besonders über Themen, die uns persönlich betreffen. Wenn wir uns heute diesem Thema widmen, dann nicht als einmalige Angelegenheit, sondern mit dem Ziel, das Leiden der anderen anzunehmen, die Wunden zu erkennen, voneinander zu lernen und einander beizustehen, um Heilung und wahre Einheit zu erreichen.“
Auf den folgenden Seiten finden sich zahlreiche weitere Beispiele für alltäglichen Rassismus. Vielleicht lösen sie in dem einen oder der anderen Unsicherheit aus. Vielleicht erwecken sie den Eindruck, dass von Rassismus betroffene Menschen überempfindlich reagieren. „Was darf ich überhaupt noch sagen?“, fragen sich viele.
Wir würden uns freuen, wenn dieses Heft dazu beitragen könnte, dass Irritation und Verunsicherung nicht dazu führen, sich zurückzuziehen. Verunsicherung kann heilsam sein; sie kann ermöglichen, Neues zu lernen. Wer die Möglichkeit hat, Schwarzen Menschen oder „People of Colour“ – so die Selbstbezeichnung nicht-weißer Menschen – zu begegnen, sollte dies tun. Auf Augenhöhe. Nicht, um zu helfen, sondern um zu lernen. Um zu verstehen, woher die vermeintliche Empfindlichkeit kommt. Um zu erkennen, dass man selbst in der Position des Stärkeren ist. Wie so oft, gilt auch hier: Die Beziehung ist das Entscheidende. Wo Beziehung gelebt wird, sind auch Fehler möglich.
Wer die Möglichkeit zur direkten Begegnung nicht hat, kann durch Lektüre oder im Gespräch mit anderen die eigene Gefährdung erkennen und so das Herz weiten. Denn, so unser Interviewpartner Karim Fereidooni: Schlimm ist nur, wenn jemand meint, er müsse nicht dazulernen.
Peter Forst
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Januar/Februar 2024.
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