2. Februar 2024

Ich bin rassistisch geprägt

Von nst5

Ulrike Comes,

Foto: privat

geboren 1960 in Essen, war bis zum Sommer 2023 Lehrerin für Mathematik und Physik an einer Gesamtschule in Solingen. Von 2004 bis 2012 war sie als Lehrerin an der deutschen Schule in New Delhi, Indien. Nach ihrer Pensionierung ist sie im August 2023 nach Augsburg gezogen.

Es lässt sich nicht leugnen: „Auch ich bin im Grunde eine Rassistin.“ Natürlich ist das sehr plakativ formuliert. Ganz bestimmt ist es nicht meine Grundüberzeugung, dass Menschen anderer kultureller, geografischer oder religiöser Herkunft weniger wert sind als ich. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir alle Geschwister in dieser einen Menschheitsfamilie sind und dass Gott keine Lieblingskinder hat. Und ich verkünde gerne, wovon ich wirklich überzeugt bin: dass es Deutschland guttut, bunter und diverser zu werden.
Dennoch gibt es da auch andere Elemente, die ich mir nicht so gern eingestehe. Warum bin ich überrascht gewesen, als ich nach acht Jahren Unterbrechung in mein altes Kollegium zurückkam und auf der Liste der Lehrerinnen und Lehrer nun auch türkische oder arabische Namen fand? Hatte ich da nicht ein Bild von „deutschen“ Lehrpersonen vor Augen, das plötzlich gestört wurde?
Oder warum fand ich mich besonders toll, weil ich während meiner Zeit als Lehrerin an einer deutschen Schule in Indien so viele indische Freunde hatte? Was war daran so besonders, dass ich mich mit Menschen vor Ort anfreundete? Spielte da in mir nicht auch ein Stück unbewusster Kolonialismus mit?
Warum bin ich so massiv auf die Barrikaden gegangen, als mich ein Schüler des Alltagsrassismus bezichtigte? War da nicht auch ein Funke Überheblichkeit meinerseits im Spiel, weil mir so was ganz bestimmt nicht passiert?
Und warum bin ich manchmal so genervt wegen der vielen Worte und Redewendungen, die ich nicht mehr benutzen „darf“, beschwere mich, dass mich das meiner Spontaneität beraubt?
Das mag nach Feinheiten klingen, nach Nebensächlichkeiten. Es war ein langer Lernprozess, bis ich mir eingestand und immer wieder eingestehe, dass ich diese Situationen zu sehr aus meiner Perspektive betrachte und bewerte.
Ich bin weiß. Ich bin in einem reichen, freien Land aufgewachsen, habe Bildung genossen, einen guten Job gehabt und muss keine Befürchtung haben, in Altersarmut zu enden. Das meiste davon ist mir in den Schoß gefallen; ich musste nichts oder nur wenig dafür tun. Auch in meinem Leben gab und gibt es schwere Momente; trotzdem kann ich nicht leugnen, auf der Gewinnerseite zu stehen.
Wenn ich versuche, mich in die Schuhe derer zu stellen, für die das nicht so ist, muss ich ganz klar sagen: Ich habe keine Ahnung, was es heißt, dauernd auf der Hut zu sein, jeden Moment einen verbalen oder sogar körperlichen Angriff fürchten zu müssen oder zu erwarten, herablassend oder gönnerhaft behandelt zu werden, weil jemand allein aufgrund seiner Hautfarbe oder seines Namens denkt, dass er oder sie doch irgendwie „besser“, vielleicht sogar „richtiger“ ist, irgendwie auf einer anderen Stufe steht.
Ja, auch ich bin rassistisch geprägt. Von meiner Kultur, meiner Umgebung und vielen Bildern. Unbewusst vielleicht, aber eindeutig. Das anzuerkennen ist der erste Schritt, damit sich etwas ändern kann. Ich gebe nichts Wesentliches von mir auf, wenn ich sensibler werde, mehr aufpasse, welche Begriffe ich verwende – aus Liebe zu dem Menschen mir gegenüber, den ich sonst möglicherweise verletze. Erst dann verlasse ich meine trügerische Position der Stärke wirklich und kann Beziehung auf Augenhöhe aufbauen.


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Januar/Februar 2024.
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