2. Februar 2024

Rassismusfreie Räume gibt es nicht

Von nst5

Unsicherheit gehört dazu, wenn man sich mit dem Thema Rassismus auseinandersetzt,

meint der Bochumer Professor und Rassismusexperte Karim Fereidooni. Aber sie sei auch die beste Voraussetzung, zu lernen und sensibler zu werden. Wir fragen ihn, womit Rassismus anfängt, warum er auch heute noch funktioniert, was er mit Menschen macht und wo es mehr Achtsamkeit braucht.

Herr Fereidooni, fangen wir mit einer Klärung an: Was genau ist Rassismus?
In der Wissenschaft unterscheiden wir zwei Formen. Zum einen den klassischen biologistischen Rassismus. Seit über 500 Jahren werden Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe in menschliche Rassen eingeteilt, die es genetisch gesehen gar nicht gibt. Weiß, gelb, rot, schwarz. Diesen werden positive oder negative Eigenschaften zugeschrieben. Weißsein wird positiv verknüpft: Intelligenz, Freundlichkeit, Demokratiefähigkeit, Frauenfreundlichkeit. Je mehr Menschen von dieser Norm wegrücken, desto negativere Aspekte oder Eigenschaften werden ihnen zugeschrieben. Das ist der klassische biologistische Rassismus.

Und die zweite Form?
Daneben gibt es den Neo- oder Kultur-Rassismus. Da geht es um die Höher- oder Minderwertigkeit bzw. Unvereinbarkeit von Sprachen, Kulturen und auch Religionszugehörigkeiten. Wenn beispielsweise Menschen sagen: „Die türkische Kultur passt nicht zur deutschen Kultur, deswegen sollten Türken in der Türkei leben, Deutsche in Deutschland.“ Aufgrund ihrer Kultur werden Menschen bestimmte Eigenschaften zugeschrieben oder abgesprochen, etwa: „Du bist nicht in der Lage, demokratische Kompetenzen zu erwerben.“

Mit Rassismus verbinden viele Gewalt auf Straßen. Tatsächlich fängt er aber früher an, oder?
Auf keinen Fall erst dann, wenn ein Molotow-Cocktail gegen meine Hauswand geschmissen wird.
Rassismus beginnt mit Skepsis: „Kannst du, so wie du aussiehst, ein guter Professor sein? Kannst du als muslimischer Mann nett zu Frauen sein? Kannst du aufgrund deiner nicht-deutschen Kultur demokratische Kompetenzen erwerben? Sind Personen, die nicht weiß-deutsch gelesen werden, in der Lage, wichtige Funktionen in unserer Gesellschaft wahrzunehmen?“

Sollte ein solches Denken in unserer globalisierten Welt nicht längst überholt sein?
Viele Forschungsbefunde zeigen ganz eindeutig, dass struktureller, individueller und auch institutioneller Rassismus in unserer Gesellschaft wirkmächtig sind. Auch im Jahr 2023 spielt er eine Rolle.
Das Prinzip „Teile und herrsche“ greift auch heute noch. Durch Rassismus werden Menschen gegeneinander ausgespielt. Davon profitieren einzelne Menschen, ganze Interessensgruppen und auch Regierungen.
Auch Abwertung spielt eine Rolle. Wenn jemand den Begriff Migrationshintergrund nur in negativem Zusammenhang verwendet, dann hat das eine Funktion, nämlich Abwertung anderer Gruppen: So wie die aussehen, gehören die gar nicht rechtmäßig nach Deutschland. Und gleichzeitig sagt diese Person auch etwas über sich selbst; sie wertet sich auf und macht andere Menschen zum negativen Gegenteil von sich. Eine weitere Funktion ist die, unliebsame Konkurrenz vom Arbeitsmarkt fernzuhalten, zum Beispiel Kopftuch tragende Frauen. Als Reinigungskräfte sind sie geduldet, aber sie dürfen keine Richterinnen, Staatsanwältinnen, Polizistinnen werden. Bis vor Kurzem durften sie in einigen Bundesländern auch keine Lehrerinnen werden.
Der Rassisimus hat also viele Funktionen in unserer Gesellschaft. Deswegen ist er auch im Jahr 2023 noch vorhanden und gefährlich.

Was macht er mit Menschen, die ihn täglich erfahren?
Wenn mir hundert Mal gesagt wird: „So wie du aussiehst, kannst du kein Abitur machen; so wie du aussiehst, kannst du kein richtiger Lehrer oder Professor sein“, dann glaube ich das irgendwann. Es sei denn, ich habe andere Menschen, die mich befähigen, an meine eigenen Stärken zu glauben und eben nicht dieses rassistische Wissen zu reproduzieren.
Rassismus führt aber auch zu einem handfesten Vertrauensverlust in unserer Gesellschaft. Wenn ich erlebe, dass Polizistinnen und Polizisten sich mir gegenüber anders verhalten, wenn Lehrkräfte als Repräsentanten des deutschen Staates mich rassistisch diskriminieren, dann führt es zum Vertrauensverlust von Menschen mit internationaler Familiengeschichte, von Schwarzen Menschen, von People of Color in unserer Gesellschaft.
Unser Zusammenleben ist aber auf Vertrauen angewiesen. Deswegen müssen wir uns in den unterschiedlichen Strukturen mit Rassismus auseinandersetzen, damit es nicht zu einer Spaltung unserer Gesellschaft kommt.

Wie werden Menschen zu Rassisten?
Dazu reicht ein normales Aufwachsen in unserer Gesellschaft. Rassismus ist eng verbunden mit Traditionen, mit bestimmten Darstellungen und Vorstellungen von Personengruppen. So werden schwarze Personen beispielsweise traditionell als hilfsbedürftig dargestellt, als Personen, die auf Hilfe angewiesen sind. Eine andere Traditionslinie ist die Darstellung, dass muslimische Menschen keinen Bezug zu Frauenrechten oder Demokratie hätten.

Was kann ich gegen Rassismus tun?
Ich würde raten, Workshops zu besuchen, Vorträge zu hören, Bücher zu lesen. Die erste Aufgabe, die Sie bewältigen müssen, ist anzuerkennen, dass es Rassismus gibt. Daran scheitern schon viele.
Dann können Sie Ihren beruflichen oder privaten Nahraum so gestalten, dass Rassismus nicht mehr vorkommt. Widersprechen, wenn etwas passiert oder jemand etwas Rassistisches sagt. Sie können Strategien lernen, wie Sie Menschen unterstützen können, die Rassismuserfahrungen machen: „Was wünschst du dir von mir?“ Man kann Programme anregen, Fortbildungsveranstaltungen und Vorträge organisieren, über das Thema reden …

… um so rassismusfreie Räume zu schaffen?
Meiner Meinung nach gibt es keine rassismusfreien Räume. Überall, wo Menschen zusammenkommen, spielt Rassismus, Sexismus, Queer- und Transfeindlichkeit eine Rolle.
Wenn wir uns bemühen und Maßnahmen entwickeln, können wir einen rassismussensiblen Raum schaffen, also eine Umgebung, die aufmerksam ist für die vielfältigen Formen von Rassismus. Aber auch das führt nicht dazu, dass nie wieder etwas Rassistisches passieren wird. Wir werden Fehler machen. Das gehört zum Leben. Wichtig ist, wie wir damit umgehen. Wehren wir ab oder hören wir tatsächlich zu, um zu verstehen, Maßnahmen zu entwickeln, an uns zu arbeiten.

Eine Art Abwehr scheint mir auch der Satz: „Jetzt darf ich gar nichts mehr sagen.“
Ja, das höre ich häufig. Diesen Menschen sage ich, dass ich keine Sprachpolizei bin. Es geht mir gar nicht darum, ihnen zu sagen, was sie denken, fühlen oder sagen sollen und was nicht. Mir geht es darum, dass sie sich mit einer Lebensrealität auseinandersetzen, die nicht ihre ist. Also zuhören, um zu verstehen und von anderen Menschen zu lernen. Dann werden sie Dinge wahrnehmen, die sie vorher nicht wahrgenommen haben, und dann vielleicht aus eigenen Ressourcen heraus sich gegen Rassismus engagieren.

Und andere erreichen?
Wir müssen uns damit auseinandersetzen, dass wir 20 Prozent unserer Gesellschaft nicht erreichen können; sie wollen rassistisch, antisemitisch, sexistisch, queerfeindlich sein. Wie gehen wir damit um? Lassen wir uns lähmen oder erheben wir trotzdem die Stimme gegen solche menschenfeindlichen Positionen?
Weitere 20 Prozent müssen wir gar nicht erreichen; sie sind schon sensibilisiert genug.
Die verbleibenden 60 Prozent sind offen, aber unsicher, wie sie es hinkriegen sollen. Deswegen ist es ganz besonders wichtig, ihnen auch Widerstands-Praktiken gegen Rassismus aufzuzeigen.

Rassismus bedeutet, Menschen in Kategorien einteilen. Unsere Welt ist komplex. Das verleitet zu Vereinfachung. Steigt damit die Gefahr, dass Rassismus sich ausbreitet?
Die Frage beinhaltet zwei Punkte. Erstens: In einer komplexen Welt brauchen wir Hilfen, Urteile, unseren sozialen Alltag zu strukturieren. Das stimmt. Aber rassistische Menschen haben nicht wahllos gegenüber allen Menschen Vorurteile, sondern nur in Bezug auf schwarze Menschen, muslimische Menschen, Sinti und Roma, jüdische Menschen.
Der zweite Punkt: Wird das immer schlimmer? Vor einigen Wochen ist die „Mitte-Studie“ erschienen. Sie weist eindeutig darauf hin, dass rechtsextreme, rassistische Positionierungen in unserer Gesellschaft zugenommen haben. Ich würde aber auch sagen, dass gleichzeitig unsere Gesellschaft im Jahr 2023 so rassismuskritisch wie noch nie ist. Es gibt eine kleine, aber laute Minderheit, die versucht, Rassismus wieder salonfähig zu machen. Es gibt aber auch ein breites Bündnis von Menschen, die versuchen, rassismuskritisch zu sein. Wir müssen diese Lebensrealität miteinander in Einklang bringen.

Was ist Ihnen bei Ihrer Arbeit besonders wichtig?
Mir geht es nicht darum, Menschen Schuld zuzuweisen oder dass sie Scham entwickeln. Es geht um Verantwortungsübernahme. Unsicherheit gehört dazu und ist eine gute Basis – sie führt dazu, dass wir erkennen, dass wir lernbedürftig sind. Am schlimmsten ist, wenn jemand meint, er müsse gar nicht dazulernen.

Vielen Dank für das sehr anregende und informative Gespräch!
Gabi Ballweg

Foto: (c) Marquard, RUB

Karim Fereidooni
ist Professor für Didaktik an der Ruhr-Universität Bochum. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die Rassismuskritik in pädagogischen Institutionen. Er berät die Bundesregierung in Sachen Rassismus, Extremismus und Muslimfeindlichkeit. Nach seinem Studium auf Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen hat Fereidooni einige Jahre Deutsch, Politik/Wirtschaft und Sozialwissenschaften unterrichtet und über Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen von Lehrkräften mit Migrationshintergrund im deutschen Schulwesen promoviert.






Hat Ihnen der Artikel gefallen? Möchten Sie mehr von uns lesen? Dann können Sie hier das Magazin NEUE STADT abonnieren oder ein kostenloses Probe-Heft anfordern.
Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Januar/Februar 2024.
(c) Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt, München
Ihre Meinung ist uns wichtig, schreiben Sie uns! Anschrift und E-Mail finden Sie unter Kontakt.