2. Februar 2024

Lebensbegleitung als Lebensaufgabe

Von nst5

Was es heißt zu lernen, war das große Thema im Leben von Pater Hans Schalk.

Jetzt ist er 91 und lernt noch immer.

„Das sollte mein Schicksal werden.“ Pater Hans Schalk schmunzelt, als er den Moment in Erinnerung ruft, in dem ihn der Provinzial, sein Vorgesetzter im Orden, bat, ein Zweitstudium mit den Fächern Pädagogik, Psychologie und Religionspädagogik aufzunehmen. Gerade erst hatte der Redemptorist, so heißt seine Ordensgemeinschaft, das Theologiestudium abgeschlossen. Das war 1956, also vor 68 Jahren. Im selben Jahr wurde er mit drei anderen Mitbrüdern zum Priester geweiht.

Foto: privat

Lernen (und lehren), das war fortan das große Thema im Leben von Hans Schalk. „Wie geht Leben?“ – „Wie geht Erziehung?“ – „Wie gehen die Wege der Menschen? – „Wie kann ich mit ihnen lebensfördernd reden?“ Das sind einige der Fragen, die ihn seither beschäftigen. Lebensbegleitung wurde zur Lebensaufgabe von Pater Hans Schalk.
Das Studium an der Ludwig-Maximilians-Universität München schloss er 1962 mit einer Doktorarbeit zum Thema „Der pädagogisch-seelsorgliche Bezug zwischen Priester und Jugendlichen“ ab. Um für Seelsorge, Lebensberatung und geistliche Begleitung auch im Alter gerüstet zu bleiben, stellte er sich später – als Sechzigjähriger – Zusatzausbildungen, etwa in Supervision und Coaching, in geistlicher Begleitung und Systemischer Strukturaufstellung.
Im Laufe der Jahrzehnte hat er vielfältige Aufgaben für die Redemptoristen und über seinen Orden hinaus übernommen. Unter anderem leitete er die Ausbildung der Novizen, also der neu in den Orden eingetretenen Männer, und lehrte an der Hochschule der Redemptoristen in Gars am Inn. Ab 1973 war er für 20 Jahre Dozent am dort gegründeten Institut für Lehrerfortbildung. 1999 schließlich wählten ihn seine Ordensbrüder für sechs Jahre zum Provinzial der Münchner Provinz der Redemptoristen. Seither lebt er mit den Mitbrüdern in der dortigen Hausgemeinschaft wieder in München.
Hans Schalk wurde am 6. Mai 1932 im Münchner Stadtteil Trudering geboren. Seine Mutter starb, als er vier Jahre alt war. „Ich habe keine klaren Erinnerungen an sie und doch ist sie mir gegenwärtig, sie lebt in meinem emotionalen Gedächtnis“, meint Pater Hans. „Meine Tante, die Schwester meiner Mutter, sagte mir einmal: ‚Deine Mutter war ein Kindernarr‘. Ich kann mir das gut vorstellen.“ Sein Bruder Fritz war siebeneinhalb Jahre älter und wurde später Hotelier. Die Beziehung zu ihm, so Hans Schalk, war vor allem im Alter sehr nahe: „Er ist neben mir am Fenster sitzend gestorben. Das prägt meine Erinnerung an ihn.“ Ein weiterer Bruder – der erste – hat nur sechs Monate gelebt. Sein Name war Siegfried und wurde zum zweiten Namen von Hans Schalk.
Sein Vater war bäuerlicher Herkunft und arbeitete als Zimmerer in einer Münchner Baufirma. Er war verantwortlich für eine Gruppe von Leuten der Firma, die ständig zu Arbeiten in einer Münchner Brauerei eingesetzt war. „Von ihm habe ich gelernt, was es heißt, konkret zu sein und Verantwortung zu übernehmen.“ Kurz nach dem Tod der Mutter heiratete der Vater wieder.
Wegen der Bombardierung von München lebte Hans von September 1943 an in der Heimat der „neuen“ Mutter im niederbayerischen Sallach. Von dort fuhr er täglich mit der Bahn zur Schule nach Straubing. Der damalige Pfarrer von Sallach fragte ihn eines Tages, ob er nicht ins Seminar eintreten wolle. Diese Einladung und die damit verbundene Frage nach einer möglichen Berufung zum Priestertum beschäftigten den jungen Hans. Nach Kriegsende, im Sommer 1945, kehrte er nach München zurück. Am Ende des Jahres trat er dann in das Knabenseminar in Freising ein und besuchte das dortige Domgymnasium, wo er im Juni 1950 das Abitur ablegte.

Foto: (c) Anja Lupfer

In den Oberklassen des Gymnasiums setzte er sich intensiv mit seiner Berufung auseinander. Das Priestertum erschien ihm als sein Weg. Aber er konnte sich nicht als alleinlebender Pfarrer vorstellen. So beschäftigte er sich mehr und mehr mit dem Ordensleben, las Biografien – etwa von Franziskus, von Benedikt, von Franz Xaver und Ignatius von Loyola. Die Jugend-Zeitschrift „Die Wacht“ stellte in jeder Ausgabe eine Ordensgemeinschaft vor. Als Hans – er war noch Schüler – den Beitrag über die Redemptoristen las, spürte er: „Das ist es: ganz mit Gott und ganz mit den Leuten leben!“ Die seelsorgliche Ausrichtung der von Alfons Maria von Liguori (1696-1787) gegründeten Gemeinschaft passte zu ihm.
Kurz nach Weihnachten 1949 erzählte er seinem Vater von seinen Gedanken. Der sagte nur: „Ich bin dagegen. Aber du musst selbst wissen, was du willst.“
So machte sich Hans Schalk am nächsten Tag zum Provinzialat der Redemptoristen in München auf und führte ein erstes Informationsgespräch, das ihn in seinem Entschluss bestätigte: Im August 1950 begann er in Gars am Inn das Noviziat und das Studium der Philosophie und Theologie.
Kurz vor der Priesterweihe 1956 sagte ihm sein Provinzial: „Wir brauchen Leute für die Erziehung im Seminar“ und legte ihm das Pädagogikstudium nahe. So nahm das eingangs erwähnte „Schicksal“ seinen Lauf.
Während der vielen Jahre, in denen er unterrichtete, lehrte und Kurse leitete, blieb Hans Schalk immer auch ein Lernender. Bei aller Ausrichtung auf Unterricht und Fortbildung verstand er sich als Seelsorger: „Worum es mir ging, waren die Leute.“
Zwei Episoden aus seiner Zeit in der Lehrerfortbildung sind ihm besonders in Erinnerung geblieben: An einem Abend rief ein Mann an und wollte seine Frau sprechen, die an einem Kurs teilnahm. Sie war nicht auffindbar, und so bat der Mann, ihr Grüße auszurichten. Am nächsten Tag kam die Frau freudig auf Hans Schalk zu: „Ich habe gestern noch mit meinem Mann gesprochen. Er wollte wissen: ‚Ist dieser Mann dein Kursleiter? Ist er Priester? Von dem kann ich mir vorstellen, dass wir uns trauen lassen.“ Die wenigen Worte am Telefon am Tag zuvor hatten in dem Mann einen Wandel bewirkt: Bis dahin hatte er eine kirchliche Trauung abgelehnt.
Bei einem mehrtägigen Besuch von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des damaligen „Instituts für wissenschaftliche Pädagogik“ zur Supervision eines Fortbildungslehrgangs in Gars zeigte sich, dass das Fortbildungsverständnis der Gäste war, Defizite zu erkennen und dann zu bereinigen. Hans Schalk setzte dem entgegen: „Zuerst geht es darum, dass sich eine Lerngemeinschaft bildet.“ In Fortbildung und Schule gelte: erst die Beziehungen, dann der Inhalt. Am Ende der gemeinsamen Tage konnten ihm die Gäste aus Münster zustimmen.

Foto: (c) Ursel Haaf

In den 1960er-Jahren hatte Hans Schalk die Fokolar-Bewegung kennengelernt. Er erzählt: „Meine erste persönliche Begegnung mit Chiara Lubich war bei einem Treffen für Geistliche aus der evangelischen und der katholischen Kirche in Nürnberg. Chiara sprach über den Weg der Ökumene: Es gelte, in einer Haltung zusammenzukommen, in der Jesus, der Herr, in der Mitte der Gruppe anwesend sein kann.“
Nüchtern, aber entschieden sagt er über die Gründerin der Fokolar-Bewegung: „Chiara Lubich erschien mir als sympathische Person, aber auch als Prophetin für die Zukunft der Ökumene. Sie hat wichtige Hinweise dazu gegeben, wie das Miteinander geht – in der Kirche und zwischen den Konfessionen.“
Über viele Jahre hinweg hat Pater Hans Schalk die Begegnungen von Ordenschristen moderiert und auch inspiriert, die im Charisma der Einheit der Fokolar-Bewegung eine „zweite Berufung“ gefunden hatten. „Der Blick der Einheit hat uns neu sehen lassen, dass das Ordensleben verwirklichtes Evangelium ist.“ So stünden die Steyler Missionare für die Aufforderung Jesu: „Geht hinaus in die ganze Welt“, die Benediktiner verkörperten Kirche als Gemeinschaft in Gebet und Arbeit, die Franziskaner das Miteinander in Schlichtheit und Geschwisterlichkeit, die Redemptoristen wiesen auf die grenzenlose Liebe und Barmherzigkeit Gottes zu den Menschen hin und ermutigten zum vollen christlichen Leben.
„Die Gaben Gottes gehören zusammen“, betont Pater Hans Schalk. Die Beziehungen von einzelnen Ordensleuten aus unterschiedlichen Gemeinschaften seien zwar in letzter Zeit selbstverständlicher und geschwisterlicher geworden, aber das Miteinander der Ordensgemeinschaften bleibe insgesamt noch hinter der Sichtweise des Zweiten Vatikanischen Konzils zurück.

Foto: (c) Ursel Haaf

Die von der Fokolar-Bewegung über viele Jahre hinweg angebotenen „Ottmaringer Tage“ für Ordenschristen hätten in dieser Hinsicht der Kirche einen großen Dienst erwiesen, nicht zuletzt, weil sie neben den Orden auch Geistliche Gemeinschaften in dieses Miteinander der Charismen eingebunden hätten. Pater Hans: „Nur gemeinsam bilden wir die Kirche Jesu Christi.“ Dieses Kirchenverständnis zeige sich auch auf der jetzigen Weltsynode der katholischen Kirche.
Inzwischen ist Pater Hans Schalk 91 Jahre alt. Im Jahr 2021 hatte er einen schweren Schlaganfall. Ein Arzt sagte ihm später, dass er es gerade noch so geschafft habe. „Ich war also dem Tod schon recht nahe.“
Was seine Aktivitäten angeht, war dieses Ereignis eine Zäsur. Seither gibt er keine Kurse mehr und seine Kraft reicht nur noch für zwei bis drei Gespräche in der Woche. Es seien vor allem Menschen, zu denen sich eine freundschaftliche Verbindung ergeben habe.
„Lernen“ aber ist weiterhin zentrales Anliegen im Leben von Pater Hans. Im persönlichen Leben ordnen sich die Prioritäten neu – auch im Rückblick auf die Vergangenheit: „Manche lange Phase in meinem Leben ist zusammengeschrumpft.“ Die vielen Jahre in der Lehrerfortbildung etwa oder in der Tätigkeit als Spiritual der Garser Missionsschwestern scheinen ihm viel kürzer zu sein als sie in der Realität waren. Einzelne Begebenheiten hingegen treten in den Vordergrund. Meist haben sie mit den Fragen nach Leben und Tod zu tun.
Wie etwa die, als – Hans war 13 Jahre alt – auf dem Rückweg von der Schule der Güterbahnhof in Straubing bombardiert wurde und der Luftdruck ihn durch die Unterführung schleuderte. Damals schoss ihm nur der Gedanke durch den Kopf: „Was sagen die, wenn der Hans nicht mehr nach Hause kommt?“
Lebendig gegenwärtig ist ihm auch die Stimme des Notarztes nach seinem Schlaganfall: „Sollen wir operieren?“ Hans Schalk: „Ich habe ‚Ja‘ gesagt. Ich wollte leben.“
Pater Hans genießt es, in seinem Alter Zeit zu haben. Zeit zur Ruhe. Zeit zum Lesen. Zeit zum Beten. Und Zeit zum Nachdenken. Vieles beschäftigt ihn: die Gesamtsituation der Kirche, der Orden und der Geistlichen Gemeinschaften. Die Tatsache, dass keiner der Studenten, die er trifft, sich frage, ob das Ordensleben ein Weg für ihn sein könnte. In Bezug auf die Hamas und andere Vorgänge in der Welt erschrecke ihn das Böse im Menschen, das sich da zeigt: „Wie ist es möglich, dass Menschen im Namen Gottes grausam töten?“
Auch das Zusammenleben von alten Menschen will gelernt sein. Da die Jüngeren unterwegs sind, verbringt der 91-jährige Hans Schalk viel Zeit mit zwei Mitbrüdern, die 89 und 92 Jahre alt sind. „Im Alter kommen die Grundeigenschaften der einzelnen stärker zum Vorschein“, so seine Beobachtung. Einander immer neu zu verstehen versuchen und einander täglich neu anzunehmen, sieht er als jetzt zu lernende Aufgabe.

Foto: (c) Anja Lupfer

Eine häufige Frage in seinem Beten lautet: „Was sagst du mir, Jesus? Zu meinem persönlichen Weg? Zu unserem gemeinsamen Weg hier im Haus, in der Kirche, als Menschheit?“ Die Bezeichnung Jesu als ‚Menschensohn‘ ist ihm immer wieder ein Licht: „Er ist der Mensch, der alle in sich und alles auf sich genommen hat. Das hilft mir, in aller Regel im Frieden zu sein.“
Das gilt auch für den Übergang ins andere Leben. Vom Kopf und von der inneren Einstellung ist er da ruhig. Aber er weiß, dass dies gelebt werden muss, wenn es soweit ist. Wichtiger ist ihm zu verstehen, „was jeden Tag dran ist. Mein Fragen betreffen das Leben, nicht das Sterben.“
Peter Forst

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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Januar/Februar 2024.
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