17. Juni 2024

Sicher in der Unsicherheit

Von nst5

Allenthalben geht es um Veränderung

– im persönlichen Verhalten, in der Politik, im Arbeitsleben und auch in der Kirche. Was hilft, dabei nicht das innere Gleichgewicht zu verlieren? Ein Gespräch mit der Pädagogin Sabine Puchinger.


Stimmt es, dass Menschen Veränderungen scheuen, Frau Puchinger?
Nein. So pauschal stimmt das nicht.

Aber es wirkt oft so.
Da sind wir uns einig.

Woran liegt das?
Jeder Mensch hat das Bedürfnis, über sein Leben bestimmen zu können. Jede Veränderung bringt ein oft mühsam errungenes Gleichgewicht durcheinander. Deshalb reagieren manche Menschen zunächst mit Abwehr. Aber gleichzeitig ist den meisten klar, dass Veränderung etwas Normales ist. Und so öffnen sie sich nach einer ersten Abwehrreaktion häufig für das Neue und kommen so in ein neues Gleichgewicht.

Reagiert jeder Mensch anders auf Veränderungsimpulse?
Sicher entwickelt jeder Mensch seine eigenen Strategien. Aber es gibt doch Muster, auf die viele zurückgreifen.
Es gibt Menschen, für die es gar nicht genug Veränderung geben kann. Sie tun sich schwer mit Stabilität und Bindung und wirken auf ihre Umgebung oft unstet und wenig verlässlich, bringen aber Dynamik in eine Situation.
Menschen hingegen, deren innere Struktur instabil ist, sind schneller geneigt, Halt in äußeren Strukturen zu suchen. Ihnen sind die Überzeugungen und Werte ihrer Familie, ihres Vereins, ihrer Partei oder ihrer religiösen Gemeinschaft wichtig, die sich möglichst nicht ändern sollten. Das ist zunächst nichts Schlechtes. Erst wenn ein Mensch seine Meinung mit seiner Identität gleichsetzt, kann es gefährlich werden. Zum einen ist dann jede Veränderung bedrohlich. Zum anderen erfährt ein solcher Mensch jede Infragestellung seiner Meinung als Angriff auf seine Person.

Leben wir tatsächlich in einer Zeit größerer und schnellerer Veränderungen als die Generationen vor uns?
Wir leben im Übergang vom industriellen zum digitalen Zeitalter. Das ist sicherlich der größte Umbruch seit Langem, vergleichbar mit dem Übergang von der Agrarwirtschaft zur industriellen Produktion.
In der Arbeitswelt gibt es massive Veränderungen mit großen Auswirkungen auch auf das private Leben. Denken Sie nur daran, wie viele Arbeitsplätze ein immer höheres Spezialwissen verlangen oder daran, wie sich unsere Art zu kommunizieren geändert hat. Da ist es nicht verwunderlich, wenn viele Menschen sich überfordert fühlen. Umso wichtiger wäre es, wenn die politisch Verantwortlichen, die den Wandel vorantreiben, das Vertrauen der Menschen genießen würden. Aber darum steht es ja nicht gerade zum Besten.

Inwiefern?
Das Vertrauen in die politisch Handelnden nimmt Schaden, wenn gehäuft Dinge vorkommen, die nicht in Ordnung sind, wie Lüge, Korruption und mangelnde Transparenz. In meinem Heimatland Österreich liegt da einiges im Argen, aber auch in Deutschland hat die politische Kultur spürbar gelitten.

Und dennoch: Die Politik muss Entscheidungen treffen, die in das Leben vieler Menschen eingreifen – etwa in Fragen des Klimaschutzes.
Selbstverständlich. Das ist ihre Verantwortung. Gerade in der Klimafrage gilt ja: Wenn wir, wenn die Politik nicht handelt, dann wird das Leben selbst, dann wird die Natur in unser Leben eingreifen.
Mir scheint hier aber noch eine andere Frage wichtig zu sein.

Welche?
Schaffen Gesetze auch Bewusstsein? Schaffen etwa Gesetze zum Klimaschutz das Bewusstsein, dass es wichtig ist, auf die Umwelt zu achten? Meine Antwort lautet: Ja und Nein. Gesetze und Verordnungen nehmen zwar Einfluss auf das Bewusstsein, aber nicht ausreichend.

Hätten Sie da ein Beispiel?
Ja. Das Rauchverbot in der Gastronomie war umstritten, als es eingeführt wurde. Heute ist es selbstverständlich, dass in Lokalen nicht geraucht werden darf. Das lag aber nicht allein am Gesetz. Mindestens genauso wichtig war, dass es parallel zur gesetzlichen Regelung eine umfassende Informationskampagne gab.

Es kommt also auf gute Kommunikation an. Was hilft noch, die Akzeptanz von Verordnungen zu steigern?
Es ist wichtig, die Bürgerinnen und Bürger mitzunehmen, sie für das Neue gewinnen zu wollen. Sie sollten nicht den Eindruck bekommen, dass ihnen immer mehr wichtige Entscheidungen aus der Hand genommen werden. Dazu hilft, wenn zumindest ein gewisser Freiraum bleibt. Es ist selten so, dass es nur eine gute Lösung gibt. Man sollte zumindest zwischen verschiedenen guten Lösungen wählen dürfen.
Es gibt also berechtigte Erwartungen an die staatlichen Akteure. Darüber sollten wir allerdings nicht aus dem Blick verlieren, dass jede und jeder von uns selbst viel tun kann, um von der Wucht der Veränderungen nicht erdrückt zu werden.

Was etwa?
Zum Beispiel: nicht auf Populisten hereinfallen. Sie leben davon, allen einzureden, dass jede noch so kleine Anregung, das eigene Verhalten zu überdenken, ein unzulässiger Eingriff in die persönliche Freiheit ist.
Für besonders wichtig halte ich es, immer wieder Momente des Nachdenkens zu suchen: Was will ich? Wie gehe ich um mit den Veränderungswünschen, die an mich herangetragen werden? Welche Veränderungen lasse ich zu? Auf welchem Fundament stehe ich? Wir haben viel häufiger Einfluss auf das, was geschieht, als wir glauben. Wir sollten versuchen, uns nicht treiben zu lassen. Eine große Hilfe kann es sein, solche Momente der Reflexion nicht nur für sich allein einzulegen, sondern auch gemeinsam mit anderen – mit Freunden, in der Familie.

Als Schulleiterin haben Sie viel mit Jugendlichen zu tun. Was möchten Sie ihnen mitgeben, um nicht „Getriebene“ zu sein, sondern eigenständig auf die vielen Impulse reagieren zu können?
Ich wünsche ihnen Menschen an ihrer Seite, deren Rat sie annehmen können; dass sie sich nicht ständig vergleichen müssen und nicht das Gefühl haben, nicht zu genügen; sie sollten sicher sein können, dass sie gut sind, so wie sie sind.
Und ich wünsche ihnen, dass sie entdecken, nicht nur auf sich schauen zu müssen, sondern dass das eigentliche Glück darin liegt, für andere zu leben.

Auch die Orte und Institutionen, die den Menschen eine geistliche Heimat bieten, sind großen Veränderungen ausgesetzt – die Kirchen etwa oder die geistlichen Gemeinschaften. Auch hier gibt es viel Verunsicherung.
Das mag daran liegen, dass hier ein besonders intimer Bereich des Lebens betroffen ist: die geistliche Heimat eines Menschen; der Raum ihrer oder seiner Gottesbegegnung. Hier ist sicher besondere Behutsamkeit verlangt.
Aus meiner Erfahrung in der Fokolar-Bewegung kann ich jedoch sagen: Auch hier tut Veränderung dringend Not. Damit das Wesentliche lebendig bleiben kann, müssen sich die Ausdrucksformen ändern können. Der Kopräsident der Fokolar-Bewegung, Jesús Morán, hat vor einigen Jahren einen Begriff geprägt, den ich bis heute als wegweisend empfinde: Er sprach von der „kreativen Treue“. Das macht schon deutlich, dass es nicht um eine Veränderung um der Veränderung willen geht.
Wer Veränderungen in der Kirche oder einer geistlichen Gemeinschaft anstößt, sollte immer deutlich machen: „Wir haben die Wurzeln im Blick.“ Dann dürfen die Blüten auch einmal eine neue Farbe haben, aber sie kommen aus der gleichen Wurzel. Und die Veränderungen sollten Frucht eines gemeinschaftlichen Unterscheidungsprozesses sein und nicht nur eine Einzelmeinung umsetzen.

Was brauchen diejenigen, die sich mit Veränderungen schwertun?
Ein offenes Ohr. Und Zeit. Sie sollten glauben können, dass die Gemeinschaft sie auf dem Weg mitnehmen möchte: „Was wäre das für ein Ziel, wenn wir ohne dich dort ankommen!“
Zugleich bin ich überzeugt, dass eine Gemeinschaft gut beraten ist, auch denen zuzuhören, die auf schnelle und tiefgreifende Veränderungen drängen. Auch sie haben Wichtiges beizutragen. Menschen, die möglichst wenig Veränderung wollen, verlassen in der Regel eine Gemeinschaft nicht, wenn es ihnen zu schnell geht. Sie ziehen sich eher zurück und nehmen nicht mehr aktiv teil. Menschen, die Veränderung erwarten und vorantreiben, gehen hingegen, wenn sie den Eindruck haben, dass sie nicht gehört werden.

Häufig suchen Menschen professionelle Hilfe, wenn sie in Veränderungsprozessen stecken: Coaching, geistliche Begleitung oder psychologische Beratung. Worauf sollten sie achten?
Als Erstes gilt es zu verstehen: „Was brauche ich wirklich?“ Coaching, geistliche Begleitung oder eine Psychotherapie helfen in durchaus unterschiedlichen Situationen. Dann empfehle ich dringend, sich an Profis zu wenden, also an Menschen, die auf ihrem Gebiet gut ausgebildet sind. Und schließlich muss es auf der menschlichen Ebene passen. Man darf ruhig in ein erstes Gespräch gehen, und wenn es nicht passt, nach jemand anderem suchen.

Am Schluss eine zusammenfassende Frage: Wann, glauben Sie, ist ein Mensch gut vorbereitet auf die Fülle an Veränderungen?
Spontan fallen mir drei Aspekte ein:
Zum einen: Wenn sich jemand sicher in der Unsicherheit fühlt, also gut damit leben kann, dass jederzeit neue Ungewissheiten auftauchen können.
Zum anderen: Wenn jemand unterscheiden kann, wann Zugehörigkeit wichtig ist und wann Einmaligkeit: Wer dazugehören will, muss sich anpassen können. Wer seine Einmaligkeit erfahren will, muss widerständig sein können und riskieren, allein zu bleiben.
Und schließlich: Wenn jemand Veränderungen mitgestalten und nicht nur aushalten will.

Vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch.

Foto: (c) Helmreich

Sabine Puchinger,
Jahrgang 1964, lebt im niederösterreichischen Enzersdorf/Fischa und ist Schulleiterin eines Gymnasiums in Bruck an der Leitha. Die Lehrerin für Bewegung und Sport, Geografie und wirtschaftliche Bildung ist beständig mit Veränderungsprozessen konfrontiert – sowohl in der Schule als auch in der Fokolar-Bewegung, der sie als verheiratete Fokolarin angehört. Ihr ist wichtig, diesen Prozessen nicht passiv ausgesetzt zu sein, sondern sie aktiv zu gestalten – am besten im Team. Sabine Puchinger ist verheiratet und hat drei erwachsene Söhne.



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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Mai/Juni 2024.
(c) Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt, München.
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