1. August 2024

Stehen lassen und gehen lassen

Von nst5

Ich kann nur geben, was ich habe.

Diese schlichte Erkenntnis zu befolgen, ist nicht immer ganz einfach. Wie können wir unsere Grenzen entdecken und dann auch respektieren?

Nina Schreiber
Psychologin, Heidelberg
Damit wir geben können, müssen wir auch unsere eigenen Bedürfnisse im Blick haben. Das ist nicht immer ganz leicht. Vielleicht hilft dieses Bild, damit wir uns dies eher zugestehen: Wenn wir für andere brennen, versorgt das zwar auch uns mit Wärme; aber ein Feuer kann nur brennen, wenn es immer wieder mit Holz gefüttert wird. Wenn wir nicht darauf achten, dass unsere Reserven aufgefüllt werden, brennen wir aus – und dann ist das Wiederentfachen umso schwerer.
Auch ein Wechsel der Perspektive kann uns helfen. Fragen wir uns: Was ist gut daran, sich abzugrenzen und auf sich zu schauen? Möchte ich für jemanden ein Vorbild darin sein, auf eigene Grenzen achten zu können? Bin ich nicht geduldiger mit anderen, wenn ich genug auf mich geachtet habe? Finde ich es schlimm, wenn mein Gegenüber seine Grenzen anerkennt?
Für den Alltag kann es hilfreich sein, ausreichend Zeiträume einzuplanen, in denen man sich um die eigenen Bedürfnisse kümmern kann. Wenn es schwerfällt, anderen Nein zu sagen, ist es sinnvoll, um Bedenkzeit zu bitten. Ein: „Ich überlege es mir, und gebe dir Bescheid.“ gibt uns Zeit, in uns hineinzuspüren, ob wir genug Kapazitäten dafür haben. Oft hilft auch eine Rückmeldung von außen: Vielleicht kann eine vertraute Person mit uns ein Auge darauf haben, ob wir uns zu viel aufhalsen.

Udo Stenz
Katholischer Pfarrer, Queidersbach
Unsere Grenzen erfahren wir häufig als negativ; sie scheinen uns ein Nein entgegenzusetzen. Wir können sie aber, wenn wir den Blick weiten, auch als Ausdruck eines Ja erkennen. Davon erzählt die Bibel. Gott erschafft, sagt Ja zur Schöpfung, indem er abgrenzt: Licht und Finsternis, Himmel und Erde, Wasser und Land, Mensch und Gott. Er setzt Grenzen (vgl. Psalm 104,9) und ermöglicht damit Abwechslung, Rhythmus und Beziehung. Daher haben Grenzen etwas Positives, auch die eigenen. Sie machen mich aus, ich bin in ihnen buchstäblich definiert (von lat. finis = Grenze). Sie stecken den Rahmen des Möglichen ab. Das zu sehen hilft, Ja zu den eigenen Grenzen zu sagen.
Übrigens: Auch Jesus erfuhr seine Grenzen. Manche folgten ihm, andere liefen weg (vgl. Johannes 6,67). Manchen konnte er helfen, anderen nicht (Markus 6,5). Er zog sich zurück, weil er sich sammeln musste, um seine Sendung zu erfüllen (Markus 1,35). Und seine tiefste Grenzerfahrung machte er am Kreuz (Matthäus 27,46). Dort öffnete sich ihm zugleich die Weite des liebenden Vaters, in dessen Hände er sich geben konnte (Lukas 23,46). Treffend schrieb Klaus Hemmerle 1993: In meinen Grenzen „grenze ich an Gott“. Wir können nicht alles. Wir müssen nicht alles können. Wir dürfen auch stehen lassen, geschehen lassen, gehen lassen. Wo wir nicht sind, ist ein Anderer umso mehr da, „der das Entscheidende tut“ (Klaus Hemmerle).

Antonella Ritacco
Psychotherapeutin, Gengenbach
Grenzen gehören zu unserem Leben. Sie umgeben uns als Person wie die Haut unseren Körper. Was wir lernen müssen, ist der Umgang mit ihnen.
Unsere Zeit, unsere Kräfte, unsere Möglichkeiten sind begrenzt. Die Dinge, die unsere Aufmerksamkeit benötigen, sind viele, und da ist es beim besten Willen oftmals nicht möglich, noch eine weitere Aufgabe zu übernehmen. Konflikte entstehen häufig, wenn das Anliegen uns reizt oder wenn wir Hilfesuchenden gerne helfen würden, etwa aus freundschaftlicher Verbundenheit, aus Beschützerinstinkt oder auch, um Schuldgefühle zu vermeiden.
Aber ist das Ja-Sagen immer etwas Gutes? Ein allzu schnelles Einwilligen kann bedeuten, dass man die Verantwortung des anderen übernimmt, der so – möglicherweise langfristig – in seiner Eigenständigkeit beschränkt wird. Grenzen lernen bedeutet annehmen, dass niemand von uns übermenschliche Kräfte hat. Es bedeutet, nachsichtig und geduldig mit sich selbst und auch mit den anderen umgehen.
Um Grenzen zu respektieren, braucht man eine mentale Flexibilität. Anstatt sich selbst zu überfordern oder zwangsläufig etwas zu vernachlässigen, um anderen zu helfen, sollte man nach Alternativen suchen, die auch das Loslassen einschließen. Wenn wir selbst mit unserem Nein-Sagen klarkommen, wird auch der Hilfesuchende uns besser verstehen.

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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Juli/August 2024.
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