7. April 2025

Christen und Gefühle

Von nst5

Stefan Dörrer

Foto: privat

Stefan Dörrer ist Psychotherapeut, Coach und Experte für Familienaufstellungen in Wien. Mit seinem Einfühlungsvermögen, seinen methodischen Fähigkeiten und seiner Wahrnehmungsfähigkeit will er Menschen helfen, das für sie Wesentliche zu entdecken, zu entwickeln, zu erreichen. Er ist verheiratet und Vater von drei Kindern.


Menschen wollen gerne alles Unangenehme vermeiden und suchen das Angenehme. Das ist ganz natürlich. In bestimmten Kontexten kann das noch verstärkt werden. So scheint manchmal der christliche Glaube wie eine Versicherung gegen Traurigkeit, Unzufriedenheit, Ärger, Einsamkeit und Angst und gleichzeitig wie eine Garantie für Freude, Mut und Zufriedenheit.
Natürlich kann der Glaube an Gott und die Beziehung zu ihm eine ermutigende Kraft im Leben sein. Schwierig wird es, wenn bestimmte Aussagen bewusst oder unbewusst als „fromme Imperative“ empfunden werden. Je nachdem wie wir geprägt sind, stellen wir dann an uns und andere Ansprüche, wie man als Christ oder Christin fühlen sollte. Es kann der Eindruck entstehen, dass es Gefühle gibt, die in Ordnung sind und andere, die man nicht haben darf. Da kann dann die Frage aufkommen: Bin ich als Christ verpflichtet, mich immer gut zu fühlen? Ist eine Christin immer zufrieden, fröhlich, positiv oder wenigstens dankbar? Und wie gehe ich dann um mit dem, was wehtut, traurig macht, Angst einflößt oder verärgert?
Ein Gefühl kann man sich nicht verordnen. Gefühle sind da und sie sind wichtig. Wie Kontrolllämpchen im Auto verweisen sie darauf, dass etwas in uns nicht im Gleichgewicht, ein Bedürfnis unerfüllt ist. Es geht nicht um das Lämpchen an sich, sondern darum, worauf es hinweist. Um die Botschaft dahinter.
Es gehört zum natürlichen Wachstums- und Reifungsprozess, dass wir lernen mit Gefühlen umzugehen, auch damit nicht sie die Regie über unser Handeln übernehmen. Auch Christen dürfen sich diesem Wachstumsprozess stellen. Ein Beispiel: „Die Liebe vertreibt die Furcht“ heißt es in der Bibel. Diese Aussage kann dazu führen, dass jemand, der trotz seines Glaubens Ängste empfindet, den Eindruck gewinnt, sein Christsein nicht gut genug zu leben, sich unter Druck setzt und in eine extreme Erwartungsspirale kommt. Ähnlich kann es sein mit Aussagen wie „Freut euch im Herrn allezeit!“ oder „Seid nicht bekümmert, denn die Freude am Herrn ist eure Stärke.“
Hingegen sind diese Aussagen wie der Polarstern, der eine Richtung weist auf einem Weg. Das Wissen, auf dem Weg zu sein hilft, mit den eigenen Gefühlen wohlwollend umzugehen und die Botschaft dahinter zu entdecken: So schafft Wut oft eine gesunde und notwendige Distanz zu einer Situation und einem Menschen – aus der heraus dann ein nächster Schritt möglich wird. Angst ist meist Zeichen für eine Überforderung und deshalb gesund, manchmal sogar lebensnotwendig.
Christen sind keine Übermenschen, sondern gerufen, ihr Menschsein in Beziehung zu Gott zu leben. Manchmal kann es hilfreich sein, die Bibel daraufhin zu lesen, wie Jesus mit Gefühlen umgegangen ist. Auch er war erzürnt, wütend, traurig, hat voller Verzweiflung geschrien. Jesus hat aber seine Gefühle in Beziehung mit dem Vater gelebt. Auch im Alten Testament werden Gefühle Gott gegenüber zum Ausdruck gebracht. Er kann das offensichtlich gut aushalten. Die Menschen wachsen so oft tiefer und echter in eine Beziehung mit ihm, mit sich selbst und zu anderen.
Gott will die Fülle der Freude für die Menschen, aber er weiß auch, dass sie dorthin unterwegs sind.


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, März/April 2025.
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