Männer und Gefühle
Rainer Heinsdorff

Rainer Heinsdorff ist Sozialarbeiter und lebt im bayerischen Aichach. Seit vielen Jahren begleitet er in seiner Arbeit junge Menschen auf dem Weg in ihr Leben. Um einen guten Umgang mit „negativen“ Gefühlen zu lernen, bietet er Kampfkunst-Kurse an.
Es ist nicht so, dass nur junge Männer lernen müssen, mit „negativen“ Gefühlen umzugehen. Das muss jeder Mensch unabhängig von Geschlecht und Alter. Und doch machen es sowohl die Natur als auch gesellschaftliche Erwartungen Männern oft besonders schwer. Auch heute noch sollen sie stark sein, für sich und ihre Lieben sorgen können und dabei keine Hilfe in Anspruch nehmen müssen. Ein hoher Testosteronspiegel tut das Seine dazu. Auch wenn die Wirkungen dieses Hormons vielschichtiger sind als lange angenommen: Aggression, Bindungsangst, Dominanz und Distanziertheit gehören dazu. Und so wirken Männer häufig gefühlskalt, einfühlungsarm oder aber rücksichtslos und aggressiv.
Es ist verständlich, dass Menschen – Männer wie Frauen – sich lieber mit dem beschäftigen, was Freude bereitet. Und doch gehören auch Wut, Angst und Traurigkeit zum Spektrum menschlicher Gefühle. Wenn sie uns begegnen, lassen sie sich nicht so einfach durch „Weiterwischen“ oder „Umschalten“ vermeiden. Diese Gefühle sind auch dann noch da, wenn wir sie leugnen, unterdrücken oder verstecken.
„Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum“, sagte der österreichische Neurologe und Psychiater Viktor Frankl. Der Mensch besitzt die Fähigkeit, sich seiner inneren und äußeren Bewegungen bewusst zu werden. Es bedarf jedoch Zeit und Raum, Kraft und Geduld, um diese Fähigkeiten zu entwickeln und sich seiner selbst bewusst zu werden. Leider jedoch spielt diese „Arbeit“ in den gesellschaftlich als wichtig anerkannten Bestrebungen nur eine nachrangige Rolle.
Dabei ist es von großem Wert, den Sinn „negativer“ Emotionen zu erkennen und sie nutzen zu können. Traurigkeit, etwa beim Verlust einer Sache oder eines Menschen, kann dabei helfen, den Schmerz auszudrücken und abzuleiten, um loslassen und sich einem neuen Abschnitt öffnen zu können. Hinter der Wut lässt sich eine Kraft entdecken, für sich selbst und die eigenen Bedürfnisse einzustehen und Veränderungen herbeizuführen, die Selbsterhalt und Freiheit fördern. Angst schließlich kann als Schutzprogramm verstanden werden, keine unnötigen Risiken einzugehen.
Jeder Mensch – und vielleicht insbesondere Männer – sollte diese Zusammenhänge Schritt für Schritt besser verstehen lernen. Mit diesem Ziel biete ich seit einiger Zeit Kampfkunst-Kurse an. Eine gute Körperwahrnehmung ist auch Grundlage für innere Ordnung, Festigkeit und Beweglichkeit. In Kontakt zu kommen mit seinem Körper kann helfen, innere Abläufe zu erkennen, auch die Schattenseiten zu integrieren und für das Ziel eines guten Zusammenlebens einzusetzen. Eine Auseinandersetzung mit sich selbst ist immer auch eine Auseinandersetzung mit der Welt – und umgekehrt. Dann wird es möglich, dass sich Emotionen nicht mehr gegen einen selbst, andere oder das Leben richten. Auf diesem Weg lässt sich zwischen Reiz und Reaktion ein Raum eröffnen, der sowohl der Freude als auch der Trauer und allem, was dazwischen stattfindet, ihren Platz zugesteht und damit der Geschichte eines jeden einen wahrhaftigen, einzigartigen Ausdruck verleiht; der uns erlaubt, hier und heute Mensch zu sein.
Hat Ihnen der Artikel gefallen? Möchten Sie mehr von uns lesen? Dann können Sie hier das Magazin NEUE STADT abonnieren oder ein kostenloses Probe-Heft anfordern.
Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, März/April 2025.
(c) Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt, München
Ihre Meinung interessiert uns: Schreiben Sie uns! Anschrift und E-Mail finden Sie unter Kontakt.