Eine gemeinsame Sicht entwickeln
Was verstehen Sie unter Frieden?
Wann ist Frieden gerecht? Wie lässt sich nach einem Krieg wieder Vertrauen aufbauen? Fragen an Laurent Goetschel, den Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung „swisspeace“.
Foto oben: (c) Keystone/Alessandro della Valle
Herr Goetschel, Frieden kann von der Abwesenheit des Krieges bis zu einem paradiesischen Zustand Vieles bedeuten. Was verstehen Sie darunter?
Frieden ist für mich, wenn Menschen es schaffen, ihre Konflikte ohne Gewalt zu lösen. Es geht darum, möglichst schon zu verhindern, dass es zu einer Eskalation kommt. Das bedeutet nicht nur, physische Gewalt zu verhindern, sondern auch ihre Ursachen: jegliche Diskriminierung zum Beispiel. Eine Gesellschaft sollte über funktionierende Mechanismen verfügen, um Konflikte ohne Rückgriff auf organisierte Gewalt lösen zu können.
Die öffentliche Debatte dreht sich derzeit um Aufrüstung, um Abschreckung. Haben wir andere Formen der Suche nach Frieden, die Diplomatie, aufgegeben?
Das sollte man nicht so schwarz-weiß betrachten. Es ist menschlich, dass man denkt, wenn Krieg herrscht: Wir müssen aufrüsten, damit es uns nicht auch noch trifft. Allerdings ist das nicht ganz durchdacht. Man sollte sich zuerst mit den Konfliktursachen befassen und danach erst Schlüsse ziehen. In Kriegszeiten laufen immer auch diplomatische Bemühungen. Je mehr Gewalt herrscht, umso wichtiger sind diese, um zu verhindern, dass Kriege weiter eskalieren, und um dazu beizutragen, dass sie ein Ende finden.
Wie kann Diplomatie aussehen?
Beim Krieg in der Ukraine war nach dem russischen Angriff von einer bevorstehenden Hungersnot im sogenannten globalen Süden die Rede, wegen eines Mangels an Getreide und anderen Nahrungsmitteln. Das konnte durch Verhandlungen abgewendet werden: über die Nutzung der Durchfahrt am Bosporus, über Ausfuhrmöglichkeiten für die Ukraine und Russland. Verschiedene staatliche und nichtstaatliche Akteure verschiedener Nationen haben parallel zum Krieg daran gearbeitet. So kam es auch mehrfach zum Austausch von Kriegsgefangenen. Ebenso begleiten den Krieg Israel-Palästina vielfältige diplomatische Aktivitäten; das sollte man nicht unterschätzen.
Was ist ein gerechter Frieden? Was sind Voraussetzungen dafür?
Ein Frieden ist gerecht, wenn er von den Konfliktparteien als gerecht wahrgenommen wird. Elemente können sein: Wie kann erlittenes Unrecht wiedergutgemacht werden – finanziell, territorial, politisch? Es hat auch viel mit Dialog zu tun: dass man überhaupt das Unrecht anerkennt, das der anderen Seite widerfahren ist, ohne dass alles wiedergutgemacht werden kann. Wenn wir an Israel-Palästina denken, ist das vielleicht Schwierigste die Geflüchtetenthematik, das Rückkehrrecht der vertriebenen Palästinenserinnen und Palästinenser. Viele leben seit Jahrzehnten in Flüchtlingslagern im Libanon und in Syrien, aber auch in den USA, Kanada, Europa: Selbst wenn sie nicht zurückkehren wollten, wäre für sie wichtig, dass anerkannt wird, dass sie vertrieben worden sind.
Eine zentrale Frage ist: Wie viel Gerechtigkeit ist notwendig für die Bereitschaft, Frieden zu schließen? Will man um der Gerechtigkeit Willen ewig weiterkämpfen oder dem Blutvergießen ein Ende setzen im Bewusstsein, dass es in puncto Gerechtigkeit noch großer Folgearbeit bedarf? Das ist ein Hauptknackpunkt sowohl in Ethik, Friedensforschung wie auch Praxis. Wie geht man mit mutmaßlichen Kriegsverbrechen um: Welche Art von Amnestie ist man bereit im Laufe des Krieges zu gewähren, um zu einem Friedensschluss zu kommen? Wie motiviert man Akteure zum Frieden, die dabei nur verlieren können? Wenn wir gerechten Frieden wollen, sollten wir die Definition von Gerechtigkeit nie nur einer Seite überlassen.
Gehört dazu auch, dass es eine Perspektive für einen dauerhaften Frieden braucht?
Ja, wobei das nicht nur mit Gerechtigkeit zu tun hat. Es ist dem Ganzen übergeordnet. Gerechtigkeit ist aber eine wichtige Komponente für einen nachhaltigen Frieden, damit die Parteien nicht wieder Feindseligkeiten beginnen. Denn die häufigsten Kriegsursachen sind vorangegangene Kriege!
Was macht eine Gesellschaft anderen gegenüber friedfertig?
Bei zwischenstaatlichen Konflikten können wir auf die Situation in Frankreich und Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg schauen: Da gab es vertrauensbildende Programme vom Schüleraustausch über gemeinsame Gedenkveranstaltungen bis hin zur Zusammenarbeit der Streitkräfte. Allerdings brauchte das Zeit. Geht es hingegen um Bürgerkrieg, wo die gegnerischen Parteien durchmischt sind, sollten vertrauensbildende Maßnahmen möglichst schnell umgesetzt werden. Ich denke an den Kosovo, an Israel-Palästina oder Regionen der Ukraine mit einer ukrainischen UND russischen Bevölkerung. Solche Maßnahmen könnten sein: Vergangenheitsaufarbeitung; Gegenüberstellung unterschiedlicher Narrative, wie es zum Krieg gekommen und was im Krieg geschehen ist; eine Wahrheits- und Versöhnungskommission, wie es sie in Südafrika gab.
Wie stark ist der Einfluss wirtschaftlicher Interessen auf Kriege?
Das hängt von Kontext, Kriegsverlauf und insbesondere der Kriegsdauer ab. Einerseits steigert Krieg die staatlichen Ausgaben, kann also die Wirtschaft ankurbeln. Ob das nachhaltig ist, ist eine andere Frage. Andererseits passt sich die Wirtschaft an die Kriegssituation an: Es gibt neue Einkommensquellen; exportorientierte Wirtschaftszweige und Hersteller von Luxusartikeln verlieren, kriegstechnisch relevante Industrien, Schmuggel und Korruption legen zu. Wer profitiert, wird potenziell Interesse an einer Fortführung des Krieges haben.
80 Jahre ist der Zweite Weltkrieg nun her und über viele Jahre hatten wir ein Gleichgewicht der Mächte. War das eine Illusion? Können wir wieder zu einem Gleichgewicht finden?
Wir hatten ein gewisses Gleichgewicht, aber unter US-amerikanischer Vorherrschaft. Während des Kalten Krieges gab es das sogenannte Gleichgewicht des Schreckens, aber kaum jemand sah darin einen erstrebenswerten Dauerzustand. Zudem fanden viele Stellvertreterkriege statt: in Südostasien, Afrika, heftige Bürgerkriege in Lateinamerika. Danach hatten wir die Phase einer starken westlichen Dominanz des liberalen Systems. Gekoppelt mit der Annahme, dass Prinzipien von Demokratie und liberalen Wirtschaftsordnungen, westliches Verständnis von Rechtssicherheit, gute Regierungsführung so klar das Beste seien, dass sie sich wie von allein weiterverbreiten.
Künftig sind verschiedene Szenarien denkbar. Recht wahrscheinlich scheint mir, dass es eine Art Konkurrenz verschiedener Systeme geben wird, bei der einiges bleibt, was sich in den letzten Jahrzehnten etabliert hat: Ein Teil der 17 UN-Ziele für Nachhaltige Entwicklung zum Beispiel wird auch von zahlreichen nichtwestlichen Staaten geteilt. Wenn sich die USA unter Trump weiter so zurückziehen wie in den ersten Wochen seiner Regierung, dann wird das zurückgefahren, was manche als Überdehnung der amerikanischen Außenwirkung sehen. Das schafft Raum – nicht nur für China, sondern auch für Indien, Afrika, Europa. Was dann von den Errungenschaften der letzten Jahrzehnte bleibt, hätte die Chance, breiter akzeptiert zu sein. Auch wenn die Umsetzung in China vermutlich anders aussehen wird als in Ägypten oder Brasilien.
Es wäre also nötig, mehr Vielfalt zuzulassen und Andersartigkeit zu respektieren?
Ja, und eine Bereitschaft, sich mit der Vielfalt auseinanderzusetzen. Da sind wir wieder bei der Diplomatie. Denn neben aller Konkurrenz gibt es überall auch das Interesse an Gemeinsamkeiten. Daran gilt es zu arbeiten.
Einige Machthaber zeigen wenig Respekt für das, was schon aufgebaut wurde: gemeinsame Verträge, internationale Organisationen. Wie können sich Länder in Europa da verhalten?
Es ist schwierig, das einzuschätzen, aber schauen wir doch mal genauer hin. Russland hat Mühe mit der NATO, aber weniger mit der UNO. Dort kann es ja auch alles blockieren. Die USA haben Mühe mit der Europäischen Union, werfen ihr vor, zur Verarmung der USA beizutragen, sind erbost über die Regulierungen vor allem im Big-Tech-Bereich. Mit dem Europarat können beide wenig anfangen. Aber es gibt auch die OSZE, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Zwar bezeichnen manche sie als lebendige Leiche, aber immerhin ist sie die einzige euro-atlantische Organisation, bei der Russland nie Anzeichen gegeben hat, nicht mehr mitwirken zu wollen. Darin könnte eine Chance zur Zusammenarbeit liegen für die Phase 2.0 des Aufbaus der Europäischen Friedens-und Sicherheitsordnung nach 1989. Aber derzeit sind wir noch weit davon entfernt.
Wenn Regierungen nicht zu Versprechen und Abmachungen stehen, geht Vertrauen in diese Nationen verloren. Wie können unsere Länder damit umgehen?
Man muss versuchen, das Vertrauen wiederherzustellen, auf beiden Seiten. Anstatt zu fragen: ‚Wer hat Schuld, wer hat angefangen?‘ und nur die eigene Perspektive zu sehen, müssten beide Seiten darauf hinarbeiten, zu einer gemeinsamen Sicht zu kommen. Ein Narrativ entwickeln, das sie so weit teilen, dass es als Grundlage für nächste Schritte dienen kann. Einen Ausgleich finden, der zumindest für die wichtigsten Beteiligten akzeptabel ist. Und dann braucht es Zeit, um wieder Vertrauen aufzubauen.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Clemens Behr

Laurent Goetschel,
geboren 1965, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Basel und Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung „swisspeace“. In seinen Forschungen beschäftigt er sich vor allem mit Fragen der Friedens- und Konfliktforschung und der Analyse von Außenpolitik. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.
„swisspeace“ ist ein Institut der Friedensforschung und -förderung, das mit der Universität Basel verbunden ist. Es analysiert bewaffnete Konflikte und entwickelt Strategien für deren Beilegung sowie zur Konfliktprävention.
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Mai/Juni 2025.
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