Ich und süchtig?
Keine Probleme mit Alkohol oder Heroin zu haben,
heißt noch lange nicht, gegen Süchte gefeit zu sein. Sich einer Suchterkrankung zu stellen, fällt schwer.

Christina Rudert hat 35 Jahre als Journalistin an einer Lokalzeitung gearbeitet, die letzten sieben Jahre als Redaktionsleiterin. Der Beruf war für sie Berufung – bis sie gesagt bekam, dass aus der Berufung eine Sucht geworden war.
Ein einziges Wort hat mich aus der Bahn geworfen: „Arbeitssucht“. Ich sei arbeitssüchtig. Eine Psychotherapeutin hat mit dieser Diagnose mein komplettes Selbstbild infrage gestellt.
Meine Arbeit als Lokaljournalistin an einer kleinen Tageszeitung in Norddeutschland machte mir Spaß und war zentraler Bestandteil meines Lebens, nicht nur zeitlich – immer deutlich über die tarifliche Arbeitszeit hinaus –, auch inhaltlich. Stress gehörte dazu. Zeitdruck, steigende Erwartungen von innen und außen, Personalknappheit. Bis das Gesamtpaket zu schwer wurde. Nach einem Zusammenbruch im Büro konnte ich nicht mehr leugnen, dass ich Hilfe brauchte. Ich landete bei der Psychotherapeutin und ihrer Diagnose: Ich war süchtig nach Arbeit. In einer gaußschen Kurve der Normalverteilung hatte ich einen Wert von 96. Das bedeutet, 96 Prozent der Menschheit nehmen Arbeit weniger wichtig als ich. Gesund wäre ein Wert von 50.
Dem Thema Sucht war ich bis dahin nur von außen begegnet: Reportagen über trockene Alkoholiker und ihre Angehörigen, Interviews mit Suchtberatern, Gerichtsberichte über Drogenabhängige und Beschaffungskriminalität. Jetzt betraf es mich selbst.
Zehn Monate war ich krankgeschrieben – krankgeschrieben, weil Sucht eine Krankheit ist. Ich brauchte die Zeit, um die Sucht und meine Verhaltensmuster zu verstehen. Dabei entdeckte ich immer mehr Parallelen zu anderen Süchten: Nach und nach hatte ich meine sozialen Kontakte reduziert – zum Glück haben meine Freunde und Familienangehörigen die Beziehung aufrechterhalten, auch wenn ich länger abtauchte. Zu Beginn der Krankschreibung konnte ich mich kaum noch an frühere Hobbys erinnern. Eins nach dem anderen hatte ich aus meinem Leben verabschiedet, weil ich sämtliche Kraft für die Arbeit brauchte.
Die zehn Monate ohne Arbeit waren heftig. Mir fiel die Decke auf den Kopf, ich wusste nichts mit mir anzufangen, fühlte mich ideen- und kraftlos – es kam mir vor wie Entzugserscheinungen. Ständig kreisten die Gedanken, auch nachts: Was hätte ich anders machen müssen? Warum hatte ich meiner Arbeit einen viel zu hohen Stellenwert eingeräumt? War Pflichtbewusstsein falsch? Und jetzt ließ ich mit meiner Abwesenheit auch noch die Kollegen im Stich. War ich es überhaupt wert, dass mein Mann, meine Familie, meine Freunde noch zu mir standen?
Im Nachhinein bin ich dankbar für diese Zeit, in der ich unendlich viel lernen durfte, dank der Therapeuten, eines Aufenthalts in einer psychiatrischen Klinik und der Reha. Und doch landete ich anschließend erschreckend schnell wieder im Sog der Sucht: In der Arbeit drehte sich nach wenigen Monaten das alte Hamsterrad, ich drohte erneut abzurutschen. Meine alten Glaubenssätze holten mich wieder ein.
Mein großes Glück: Nach neun Monaten in der Arbeit bin ich inzwischen in der passiven Phase der Altersteilzeit. Immer noch muss ich aufpassen, mich nicht in wilden Aktionismus zu stürzen; die Versuchung ist groß, etwas leisten zu wollen. Jeden Tag geht es darum, meine Grenzen zu erkennen und einzuhalten. Sie dürfen auch mal überschritten werden, aber nicht mehr dauerhaft. Alleine geht das nicht. Mir helfen mein Glaube, meine Familie und meine Freunde.
Christina Rudert
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, September/Oktober 2025.
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