6. Oktober 2025

Näher als wir denken

Von nst5

Abhängigkeit ist eine Krankheit,

nicht einfach nur Folge von Willensschwäche. Und es gibt sie nicht nur weit weg von uns.

Kann es sein, dass wir es uns ein wenig zu leicht machen? Abhängigkeit – die gibt es natürlich und sie ist sehr bedauerlich; aber betroffen davon sind andere. Das Problem existiert, ist aber weit weg von uns. Ich selbst ertappe mich immer wieder bei solchen Gedanken.
Die nackten Zahlen legen etwas anderes nahe: In Deutschland, so das Gesundheitsministerium auf seiner Website, rauchen 11,6 Millionen Menschen, 1,6 Millionen sind alkoholabhängig. Man geht davon aus, dass bei 2,9 Millionen Menschen ein heikler Medikamentenkonsum vorliegt. Rund 1,3 Millionen Menschen weisen einen problematischen Konsum von Cannabis und illegalen Drogen auf. Etwa 1,3 Millionen Menschen sind spielsüchtig. Bei 8,4 Prozent der 12- bis 17-Jährigen und bei 5,5 Prozent der 18- bis 25-Jährigen schließlich kann von einer internetbezogenen Störung ausgegangen werden.
Auch in Österreich ist das Rauchen die am weitesten verbreitete Sucht. Etwa jede fünfte Person raucht täglich. Tabakrauchen ist nach aktuellen Schätzungen für zehn Prozent aller Todesfälle verantwortlich. Bei Jugendlichen hat sich der Anteil der Rauchenden seit 2002 allerdings etwa halbiert. Weiter heißt es im „Epidemiologiebericht Sucht“ von 2024, dass etwa jede siebte Person in gesundheitsgefährdendem Ausmaß trinke, wobei ein solches Verhalten bei Männern doppelt so häufig vorkomme wie bei Frauen. Der problematische Alkoholkonsum sei jedoch seit einigen Jahren rückläufig.
In der Schweiz ist der Anteil der Personen, die täglich Alkohol trinken, seit 1992 um gut die Hälfte zurückgegangen. Dafür konsumieren Männer und Frauen bei bestimmten Gelegenheiten mehr: Elf Prozent der Frauen und 19 Prozent der Männer betrinken sich mindestens einmal im Monat. Fehlende politische Maßnahmen, so das „Schweizer Suchtpanorama 2024“, führten dazu, dass der Nikotinkonsum bei Erwachsenen gleichbleibe und bei Jugendlichen steige.

Bild: © freepik (Freepik)

Suchterkrankungen – dazu zählen auch sogenannte stoffungebundene Abhängigkeiten wie Spielsucht, Kaufsucht und Internetsucht – sind alles andere als ein Randphänomen. Wir können ziemlich sicher sein, dass es in unserer nahen Umgebung Menschen gibt, die entweder selbst abhängig oder mitbetroffen sind, weil sie Partner, Eltern oder Kinder von Abhängigen sind.
Unsere Gesellschaft ist beim Thema Abhängigkeit von einer zweifelhaften Doppelmoral gekennzeichnet. Legale Drogen, wie Alkohol und Nikotin, werden anders, positiver bewertet als illegale Drogen – Heroin und Kokain etwa. Dabei ist Nikotin für jährlich acht Millionen Todesfälle weltweit verantwortlich, Alkohol für knapp drei Millionen. An illegalen Drogen und damit zusammenhängenden Krankheiten sterben jährlich etwa 600 000 Menschen.
Mit Abhängigkeit lässt sich viel Geld verdienen. Auch das gilt – auf unterschiedliche Weise – für legale wie illegale Drogen. So hat etwa die Tabakindustrie in der Schweiz 2022 einen Umsatz von gut 27 Milliarden Franken gemacht. Die Tabaksteuer beschert Deutschland jährlich knapp 15 Milliarden Euro Einnahmen; in Österreich sind es gut zwei Milliarden Euro, in der Schweiz etwas mehr als zwei Milliarden Franken. In der Europäischen Union geben Menschen jährlich 30 Milliarden Euro für illegale Drogen aus; weltweit schätzt man den jährlichen Umsatz auf 500 Milliarden Dollar. Der Umsatz der Porno-Industrie wird auf 12,6 Millionen Euro geschätzt – jeden Tag! Das ist mehr als Netflix und Hollywood einnehmen.
Hinter diesen Zahlen verbergen sich unzählige Schicksale. Abhängigkeit – egal ob stoffgebunden oder stoffungebunden – ist eine Krankheit und nicht einfach nur Willensschwäche. Sie wirkt sich negativ auf den Körper, die Psyche und die soziale Einbindung aus. Außerdem verursacht sie erhebliche Probleme auch für das Umfeld der Betroffenen. Die meisten Menschen erleben eine große Hilflosigkeit im Umgang mit Abhängigen: Wie lassen sich Respekt vor der Würde des betroffenen Menschen verbinden mit der gebotenen Klarheit und dem notwendigen Selbstschutz? Wie kann es gelingen, den einzelnen Menschen zu sehen, der sich schämt, weil er zu jemandem geworden ist, der er nie sein wollte; und gleichzeitig dazu beizutragen, dass er erkennen kann: Ich allein bin für mein Leben verantwortlich?
Viele Selbsthilfegruppen1 leisten hier eine Arbeit von unschätzbarem Wert. Sie bieten Abhängigen wie auch ihren Angehörigen geschützte Räume, in denen sie gesehen werden, sprechen und ihre Ohnmacht ausdrücken können, ohne verurteilt oder bedrängt zu werden.
Zum Schluss möchte ich Sie schon einmal auf eine Aussage unseres Interviewpartners Rudolf Klein aufmerksam machen: „Es mag merkwürdig klingen: Aber die meisten Suchtkranken sind abhängig geworden, weil sie dem Ideal einer uneingeschränkten Unabhängigkeit gefolgt sind“. Kein Mensch ist unabhängig von den äußeren Umständen, von anderen Menschen und den eigenen Gefühlen. Kein Mensch kann immer funktionieren, jederzeit mit kühler Vernunft und klarem Bewusstsein handeln. Menschen haben ein berechtigtes Verlangen nach Unbeschwertheit, nach Ausgelassenheit, ja nach Rausch. Wenn wir von einer „rauschenden Party“ sprechen oder davon, dass wir „ganz berauscht“ von einem Erlebnis oder einer Begegnung sind, dann meinen wir ja etwas Schönes.
Vielleicht können etwas weniger Drang nach Perfektion, etwas weniger Erwartungen an uns selbst und aneinander sowie etwas mehr gemeinsam erlebte Leichtigkeit auch ein Beitrag sein, dass wir und andere „rauschhafte Momente“ ganz ohne Suchtmittel erleben können.
Peter Forst

1 Selbsthilfegruppen für ganz verschiedene Krankheiten finden sich unter nakos.de, oekuss.at und selbsthilfeschweiz.ch.


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, September/Oktober 2025.
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