24. Mai 2012

Eltern einer Seligen

Von nst1

Chiara Luce Badano, die mit nur 18 Jahren starb, wurde 2010 seliggesprochen. Ihre Eltern erzählen vom gemeinsamen Leben mit ihr.

Am 25. September 2010 sprach die katholische Kirche eine junge Frau selig: Chiara Luce Badano. Ihre Eltern, Maria Teresa und Ruggero, leben noch und sind seitdem viel unterwegs1), um vom Leben ihrer „berühmten“ Tochter zu erzählen. Oft werden sie dabei von Franz Coriasco begleitet, einem Freund der Familie. Seine Gespräche mit den Ruggeros hat er nun in einem Buch2) festgehalten. Hier gekürzte Auszüge daraus.

Aus dem Vorwort
Wir kennen uns schon lange. Ich habe Maria Teresa und Ruggero Badano weinen, diskutieren und auch streiten sehen – wie jedes gewöhnliche Ehepaar. Doch diese beiden sind kein gewöhnliches Ehepaar. Sie haben – man versuche einmal, sich das auszumalen – eine Tochter, die von der katholischen Kirche offiziell seliggesprochen wurde. Papst Benedikt XVI. hat diese Familie als Vorbild bezeichnet, als „Modell“ für eine christliche Familie. Als ich vor einiger Zeit ein Buch über Chiara Luce Badano zu schreiben begann, wollte ich vor allem von ihr erzählen: von dieser 18-Jährigen, die so früh an einem schrecklichen Tumor gestorben und nun bereits zur „Ehre der Altäre“ erhoben worden ist. Je mehr ich mich zu den Hintergründen vortastete, desto klarer wurde mir, dass ein so besonderer Mensch nicht einfach plötzlich da ist. Als einer, der die außergewöhnliche Geschichte von Chiara Luce persönlich miterlebt hat, glaube ich sagen zu dürfen: Die Kirche hätte keine selige Chiara Luce, die Welt hätte ihr Lebenszeugnis nicht ohne Maria Teresa und Ruggero Badano. Und diese beiden ewig Junggebliebenen, denen man ihre je 76 Jahre nicht ansieht, hätten nicht diese Ausstrahlung, wenn sie nicht einen Teil ihres Lebens zusammen mit ihrer Chiara verbracht hätten.

Einfache Leute
Während unserer Gespräche beobachtete ich oft, wie sich die Blicke von Maria Teresa und Ruggero Badano kreuzen und sie sich rasch verständigen. Zwischendurch macht Ruggero eine seiner trockenen Bemerkungen (sein klassischer, regelmäßig von Gelächter begleiteter Spruch lautet: „Wenn alles gut geht, sind wir verloren!“) … Ich mag sie und beneide sie um die Einfachheit ihrer Beziehung und darum, wie eindrucksvoll sie einander ergänzen. Geboren sind sie am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Ihr Leben war, als Einzelne wie als Ehepaar, sehr bewegt: ein ständiger Wechsel von Freude und Schmerz, oft ins Extreme gesteigert. An ihrem Beispiel zeigt sich, wie unabsehbar das Leben sein kann …

Welche Ratschläge würdet ihr aus eurer Erfahrung einem jungen Paar heute geben?
Maria Teresa: Ratschläge geben wir grundsätzlich nicht. Wir können es nicht und glauben auch nicht, dass sie dienlich wären; denn jedes Paar hat seine eigene Geschichte. Von dem her, was wir selbst erlebt haben, können wir nur sagen: Ganz wichtig ist, miteinander zu sprechen und Entscheidungen gemeinsam zu treffen; die Dinge beim Namen zu nennen und nicht um die Probleme herumzureden; zu wissen, wie entscheidend es für eine Familie ist, autonom entscheiden zu können.
Ruggero: Ja, ich denke, es ist wichtig, sich von keinem bestimmen zu lassen, weder von Freunden noch von Verwandten. In dieser Hinsicht muss ein jeder die Nabelschnur durchschneiden, sonst bleibt die neue Familie auf der Strecke.
Maria Teresa: Viele Ehen sind daran zerbrochen, dass sich andere mehr oder weniger übergriffig verhalten und sich eingemischt haben. Es ist ein Lernprozess, mit der jeweiligen Herkunftsfamilie vereint zu sein und zugleich sein eigenes Leben als Familie zu leben. Das ist
jedenfalls unsere Erfahrung.
Ruggero: Und das Allerwichtigste ist eine große Liebe füreinander; sonst wird es kaum gelingen, die Hindernisse, die früher oder später unausweichlich kommen, zu überwinden. Also lernen, einander zu ergänzen und die Fehler des anderen zu ertragen. Am Ende gewinnt immer und einzig die Liebe, in der Beziehung der Partner und in der Beziehung mit den Kindern: Nur dann werden sie erkennen können, dass auch hinter einer Zurechtweisung der Wunsch steht, dass es ihnen gut geht.

Zu dritt!
Wenn Maria Teresa und Ruggero anfangen, von ihrem Leben mit Chiara Luce zu erzählen, kommen sie mir manchmal vor wie ein wandelnder Familienratgeber. Um nicht missverstanden zu werden: Ich meine nicht jene Gattung von Büchern, die alle möglichen, mehr oder weniger nachvollziehbaren Empfehlungen und Ratschläge enthalten; bei ihnen findet man vielmehr ständig neue, konkrete Beispiele dafür, wie man als Paar oder in der Eltern-Kind-Beziehung mit Schwierigkeiten umgehen kann. Am liebsten würde ich ununterbrochen weiterfragen …
Wenn das Warten lange dauert, in ihrem Fall waren es über zehn Jahre, dann wird ein Kind vielleicht noch mehr als sonst als „Geschenk des Himmels“ erlebt, als ein Wesen, das man entsprechend behandeln und großziehen möchte: mit jener Liebe, welche „die goldene Regel“
einer Familie ist …

Wie habt ihr reagiert, wenn Chiara mal nicht auf euch gehört hat?
Maria Teresa: Sie war nicht der Typ, der … – höchstens ein bisschen flatterhaft oder gedankenlos war sie. Einmal, als sie schon die Mittelschule besuchte, machte sie mit ihren Freunden eine Tour. Sie waren etwas unvorsichtig gewesen und wurden von einem fürchterlichen Unwetter überrascht. Wir und die anderen Eltern waren in heller Aufregung; man konnte geradezu zusehen, wie der Fluss anstieg, den sie auf dem Heimweg überqueren mussten. Die bekommt etwas zu hören, wenn sie nach Hause kommt!, dachte ich bei mir. Da riefen andere Eltern an, um mir zu sagen, dass sie gerade zurückkämen. Ich war so aufgebracht, dass ich meine Schwester Mimma bat, Chiara entgegenzugehen. Mir schien es das Beste, denn ich wollte ihr die Szene ersparen, die ich ihr in diesem Moment unweigerlich gemacht hätte. Die Tante schickte Chiara sofort in ihr Zimmer. Ich glaube, Chiara hat gleich verstanden, dass sie mich in Angst und Schrecken versetzt hatte; jedenfalls schaute sie mich am nächsten Morgen so schuldbewusst und traurig an, dass ich es vorzog, auf eine Standpauke zu verzichten. Ich sagte nur, dass ich nichts mehr zu sagen brauche, weil sie es offenkundig selbst begriffen hätte. Sie umarmte mich und sagte, dass so etwas nicht mehr vorkomme.

Die Zeit »nach« Chiara
Sprechen wir über das, was wir von Chiara lernen könnten. Manches davon ist durchaus auch für Menschen wie mich, die nicht an einen Gott glauben, brauchbar. Ich denke an große alte Worte, die heutzutage schrecklich unmodern klingen: Demut, Durchhaltevermögen und Treue. Oder das, was man einmal „das gute Beispiel“ genannt hat …
Ruggero: Ganz richtig; manchmal denke ich, dass ausgerechnet die Werte abhanden kommen, die heute am meisten vonnöten wären.
Maria Teresa: Vor allem die Treue zu sich selbst. Sie wird viel zu wenig wertgeschätzt; doch ohne sie haben noch so tolle Ideen keine Kraft, führen Konzepte nicht zum Tun … Und das Vorbild, das „gute Beispiel“, wie du es nennst, zählt mehr als tausend Worte. Die Frage, wie wir selbst es mit den Werten halten, die du genannt hast, sollten wir uns immer wieder stellen, am besten tagtäglich in einer Art Gewissenserforschung: Leben wir sie wirklich?

Wie schafft ihr es nach so vielen Ehejahren, euch immer noch zu ertragen?
Maria Teresa: Das wissen wir manchmal selbst nicht … Manchmal ist es anstrengend; denn je älter man wird, desto deutlicher kommen die Fehler und weniger guten Seiten zum Vorschein. Es ist schwieriger, einander zu vergeben und die kleinen „Brüche“, die es hier und da gibt, zu heilen. Jeder ist versucht zu denken: Warum ist der andere bloß so? Eigentlich will er doch das Gleiche wie ich; uns verbindet ein und dieselbe Spiritualität; warum muss immer ich den ersten Schritt auf ihn zu tun? Und umgekehrt … So vergehen Stunden, manchmal auch ein paar Tage, bis wir wieder zur Eintracht untereinander finden. Doch ich spüre, dass mir alles fehlt, wenn die Einheit
unter uns gelitten hat. Ruggero ist da einfacher, er macht sich nicht so viele Probleme …
Ruggero: Ja, ich will den Problemen nicht zu viel Gewicht beimessen. Ich denke eher, dass die Zeit die Dinge schon wieder fügen wird. Probleme zu wälzen ist nicht meine Veranlagung. Das Problem ist nur, dass ich manchmal nicht einmal mitkriege, wenn ich Maria Teresa verletzt habe.

Und doch hat Papst Benedikt XVI. in Palermo eure Familie öffentlich als Vorbild für andere bezeichnet …
Ruggero: Und stell dir vor, wir haben ihm das geglaubt! In solchen Augenblicken begreifst du, dass für Gottes Liebe unsere Mickrigkeit und unsere menschlichen Grenzen unwichtig sind.
Maria Teresa: Klar, man kann immer etwas besser machen. Vor allem können wir nach jedem „Fallen“ wieder aufstehen und neu beginnen. Es kommt darauf an, auf die Barmherzigkeit Gottes zu vertrauen; ohne sie wären wir alle verloren. Gott rettet uns nicht, weil wir gut sind, sondern weil er gut ist!

1) Auch beim Katholikentag in Mannheim.
2) Franz Coriasco, „Ciao Mama; sei glücklich, denn ich bin es!“, Im Gespräch mit den Eltern von Chiara Luce Badano. Verlag Neue Stadt

(erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai 2012)
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