24. Januar 2018

Mitten in der Gesellschaft

Von nst5

Armut ist nicht irgendwo, sondern oft ganz nah. Erschreckend findet das nicht nur Sigrun Jäger-Klodwig aus Münster.

Bei uns in der Pfarrgemeinde haben wir einmal im Monat eine Sprechstunde der Pfarrcaritas. Da erlebe ich Armut – ganz konkret – und finde das erschreckend in einer Stadt wie Münster und in einer relativ wohlhabenden Pfarrei! Wir sind einerseits in der tollen Lage, dass wir viele Spenden bekommen. Andererseits kommen auch jeden Monat mehr Menschen, weil sie Lebensmittelgutscheine oder andere Unterstützung brauchen.
Es sind vor allem Frauen – in der Rente! Oft kommen sie sehr verschämt. Und zögern lange, bevor sie sich auf den Weg machen. Aber das Angebot hat sich inzwischen rumgesprochen; auf dem Gebiet der Gemeinde gibt es „Sozialwohnungen“ für ältere Menschen; die Frauen kennen sich und ermutigen sich gegenseitig. Denn es fällt ihnen sehr schwer zu sagen, dass sie wenig Geld haben. Wenn sie uns beim ersten Besuch ihre Rentenbescheide zeigen, können einem die Tränen in die Augen steigen. Das kann einfach nicht zum Leben reichen! Dabei haben diese Frauen ihr Leben lang entweder in der Familie oder im Beruf gearbeitet. Und nun haben sie trotzdem nicht genug. Viele können super mit ihrem Geld umgehen. Diese Generation hat ja nach dem Krieg gelernt zu wirtschaften. Deshalb sieht man ihnen die Not auch nicht an. Aber wenn man nachfragt, erfährt man, dass sie die Kleider aus der Kleiderkammer haben oder sie geschickt aufpeppen.
Es kommen auch jüngere Personen, die chronisch krank sind. Es gab mal den Slogan: Armut macht krank. Das stimmt. Aber umgekehrt gilt auch: Krankheit macht unter Umständen auch arm. Je nachdem, ob man dann noch Unterstützung hat von der Familie oder ob man allein ist. Wenn man wegen einer chronischen Krankheit nicht am Erwerbsleben teilnehmen kann, wird’s ganz, ganz schwierig.
Es ist erschreckend, in einem gut bürgerlichen Umfeld diesen Kontrast zu sehen und zu merken, welche schwierigen Situationen es gibt, auch in der Mitte unserer Gesellschaft. Unsere Spendenaufrufe in der Pfarrei dienen deshalb auch dazu, die Menschen der Gemeinde zu sensibilisieren und deutlich zu machen: Es gibt uns und wir haben diese Sprechstunde. Und: Wenn ihr den Verdacht habt, es könnte jemand Hilfe brauchen, weist uns bitte darauf hin. Aber das ist auch heikel. Man geht übervorsichtig mit dem Thema um und es gibt ja auch die Scham der Betroffenen.
Wir haben auch schon erlebt, dass ein Mann bei uns Hilfe gesucht hat und sich dann herausstellte, dass er auch zu anderen Sprechstunden in Münster ging, um dort Geld oder Gutscheine zu bekommen. Wir versuchen selbstverständlich, so etwas auszuschließen und sind auch mit anderen Sozialbüros oder Sprechstunden vernetzt. Und wenn du das dann hörst, ist das erst mal echt blöd. Aber wir haben darüber geredet und uns dann gesagt: Eigentlich können wir gar nicht zu viel helfen. Wir wissen von den allermeisten, die zu uns kommen, dass sie die Hilfe brauchen, und wir vergeben in den Sprechstunden auch keine großen Summen.
Ob auf der Straße oder in der Sprechstunde, es ist mir wichtig, den Menschen zu begegnen, sie zu sehen, sie wahrzunehmen. Denn es geht nicht nur um die materielle Hilfe, sondern auch darum, die Menschen als Person – und das bedeutet für mich auch: als Kind Gottes – wahrzunehmen.
Insgesamt nehme ich im Moment eine steigende Angst vor Armut wahr. Die Sorgen oder Probleme sind nicht kleiner geworden in den letzten Jahren. Die Politik hat das mehr im Blick. Aber so richtig viel verändert sich noch nicht, etwa im Hinblick auf Kinder- und Familien- oder Altersarmut.
Sigrun Jäger-Klodwig

Sigrund Jäger-Klodwig
Jahrgang 1966, ist seit 1989 verheiratet und Mutter von vier Kindern. Sie lebt in Münster und ist Geschäftsführerin beim Familienbund der Katholiken im Bistum. Ehrenamtlich engagiert sie sich auch in ihrer Pfarrgemeinde.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2018)
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