15. Januar 2019

Sardische Begegnungen

Von nst5

Sprachwitz, ein enormes Gedächtnis, geistliche Tiefe, menschliche Nähe, Zurückhaltung: hervorstechende Eigenschaften von Klaus Hemmerle, der vor 25 Jahren starb. Seine Aufgaben als Theologieprofessor und Bischof von Aachen nahmen ihn voll in Anspruch.  Zum Ausgleich verbrachte er 25 Mal seinen Urlaub auf Sardinien. Was fand er dort? Was blieb von ihm? Das wollten 47 Leserinnen und Leser der NEUEN STADT bei einer Reise auf die Mittelmeerinsel herausfinden.

 

Im Monsignor-Hemmerle-Park: Mario Bruno, Bürgermeister von Alghero, mit der Titelseite eines Buches über Klaus Hemmerle von Wilfried Hagemann (links im Bild). – Fotos: (c) G. Hartl, C. Behr

Touristen verlieren sich kaum hierher. Der unscheinbare Monsignor-Hemmerle-Park in der 70 000-Einwohner-Stadt Alghero an der Nordwestküste Sardiniens liegt abseits von Jachthafen, malerischer Innenstadt und Sehenswürdigkeiten. Dass wir mit einem Bus voller Besucher aus Deutschland, Österreich und der Schweiz auf den Spuren ihres einstigen treuen Feriengastes unterwegs sind, nutzt die Kommune zu einer Veranstaltung: Mit der sozialen Kooperative EcoToni hat sie die Bürger zu einer Begegnung mit uns eingeladen. Partyzelte sind im Park aufgestellt; Bürgermeister Mario Bruno heißt Besucher und Ehrengäste willkommen. Reden erinnern an Hemmerle und sein enges Verhältnis zu Alghero. Schautafeln präsentieren die Ergebnisse einer Befragung der Bürger: Sie haben über Vorschläge zur Verschönerung des Parks, zur Bepflanzung, für mehr Nutzungsmöglichkeiten und größere Sicherheit abgestimmt. Denn die Stadt will, dass der Park stärker im Geist von Klaus Hemmerle genutzt wird – als Ort der Erholung, vor allem aber als gemeinschaftsstiftender sozialer Treffpunkt. Mit der freundschaftlichen Begegnung verwirklicht sich dieser Wunsch an jenem sonnigen Spätnachmittag bereits – zumindest für ein paar Stunden.

Die Nuraghe “la Prisgiona” bei Arzachena – 3 500 Jahre alte sardische Bau-Kultur

Wir waren vom Nordwestzipfel der Insel aufgebrochen, hatten in Castelsardo und Porto Torres Station gemacht und schon erste Eindrücke gesammelt: von der vorchristlichen Nuraghe-Kultur mit ihren dicken, runden Steintürmen, der zerklüfteten Felslandschaft mit der würzig duftenden Vegetation, den traumhaften Stränden mit dem türkisfarbenen Meer. Wir hatten alte Kirchen gesehen, bei einer Weinprobe roten Cannonau und weißen Vermentino gekostet, das hauchdünne Fladenbrot Carasau, Schafskäse und andere sardische Spezialitäten genossen. Auch der herzlichen Gastfreundschaft der Sarden waren wir begegnet. Kein Wunder, dass Bischof Hemmerle sich hier wohlgefühlt hat!

Alghero: Blick über den Hafen Richtung Capo Caccia

„Wenn wir in Sardinien waren, fragte Klaus immer: ‚Was siehst du jetzt?’“, erzählt unser Begleiter Wilfried Hagemann. 25 Mal war der Fokolar-Priester und promovierte Theologe, der heute in Bocholt lebt, Hemmerles Urlaubsgefährte. Des Öfteren war – in wechselnder Besetzung – noch ein weiterer Priester mit von der Partie. „Wenn ich antwortete: ‚Eine Kurve mit Bäumen’, meinte er: ‚Du bist nah dran, könntest aber noch mehr sehen!’“ In den Semesterferien Anfang 1969 hatte Klaus Hemmerle zum ersten Mal Sardinien besucht: Mit fast 40 Jahren konnte er erstmals Ferien machen, nachdem sein Vater gestorben war. Zuvor hatte er ihn jeden Abend wegen dessen schwerer Parkinson-Erkrankung zu Bett gebracht. Hemmerle war in Freiburg geboren, hatte den Zweiten Weltkrieg mit der Bombardierung der Stadt erlebt, das Elternhaus abbrennen sehen. 1947 begann er Theologie zu studieren, wurde 1952 Priester, promovierte beim Religionsphilosophen Bernhard Welte, der ihn stark prägte, wurde 1975 Bischof von Aachen. „Mit Klaus habe ich in Sardinien eine Sehschule mitgemacht“, erläutert Hagemann. „Wir haben versucht, den Sinn hinter den Dingen zu sehen.“ Was das heißt, verdeutlichen Hemmerles Aquarelle, in denen er seine Urlaubseindrücke verarbeitete. Wenn er einen Weg malte, versinnbildlichte dieser für ihn Jesus, der von sich gesagt hat: „Ich bin der Weg.“ 1Oder er sah darin den Weg des Lebens“, führt Hagemann aus. „Denn oft wissen wir nicht, wo es lang geht, was uns hinter der nächsten Kurve erwartet. Bei ihm gingen immer geistliche Gedanken mit. Es gab um Alghero herum wunderschöne, zum Teil verfallene Tore. Die malte er besonders gern, weil er dachte: ‚Jeder Mensch ist ein Tor zu Gott.’“

Türen, Fassaden: Uferpromenade in Alghero

Sich von Gott führen lassen und Gelegenheiten schaffen, um Menschen zu begegnen, gehörte zu Hemmerles Lebensprogramm – auch im Urlaub. „Meistens holte uns ein befreundeter Lehrer vormittags in einer Unterrichtspause ab und brachte uns vor die Stadt. Von dort aus wanderten wir querfeldein“, erinnert sich Hagemann. „Auf dem Rückweg versuchten wir zu trampen.“ Oft mussten sie lange warten, bis ein Auto vorbeikam. Klempner, Tierärzte, Möbelpacker – ganz unterschiedliche Leute nahmen sie mit. Hagemann erinnert sich an einen Müllwagen, der anhielt. „Vorn in der Fahrerkabine war noch Platz. ‚Was macht ihr denn so?’, wollte der Müllmann wissen. Die Sarden staunten immer, dass wir zu Fuß durch die unwirtliche Landschaft zogen. So kamen wir ins Gespräch und verrieten, dass er einen Bischof fuhr. In Alghero angekommen, lud er uns zum Espresso ein.” Auf den Wanderungen trafen sie Hirten, Fischer, Winzer und Bauern; viele Bekanntschaften kamen über Mamma Manunta zustande, die sie in den ersten Jahren beherbergte, und über die Besitzer vom Hotel „La Margherita“, wo sie später unterkamen. Das letzte Mal war Hemmerle Anfang 1993 auf Sardinien. Am Karfreitag drauf wurde ein Tumor entdeckt, an dem er am 23. Januar 1994 in Aachen starb.

Kuppel mit farbigen Kacheln: San Michele

Vom Hemmerle-Park fährt unsere Gruppe zu einem Bildungshaus, wo wir einen Teil der „Parkbesucher“ wiedertreffen. Weitere Bewohner aus der Umgebung stoßen dazu. Es ist die bunte Gemeinschaft der Fokolar-Bewegung von Alghero. Ein festliches Büfett ist vorbereitet. Bevor wir zum Stehimbiss übergehen, wollen die Gastgeber uns unbedingt ihre Erlebnisse mit Klaus Hemmerle weitergeben: „Ich habe ihn und seine Freunde 1969 kennengelernt“, berichtet Maria Teresa Mura, die damals gerade verlobt war. „So eine Verfügbarkeit wie bei ihnen hatte ich noch nie erlebt. Das hat mich nachdenklich gemacht: Lebe ich echtes Christentum?“ – „Als ich fragte, was ich tun kann, um ein verwirklichter Christ zu sein, antwortete Klaus: ‚Lebe jeden Tag die Liebe zu den anderen!’“, ergänzt ihr Mann Tore. „Er hat uns aufgebaut, etwas gegeben, das tief in uns eingedrungen ist“, bestätigt die Frau des Bürgermeistes. „Wenn wir im Stadtrat schwierige Momente durchmachen, bitten wir Klaus, uns vom Himmel her zu helfen“, erzählt ihr Mann, Mario Bruno.
„Sein Bischofsamt war für ihn nicht mit Prestige oder Macht verbunden“, hebt Don Giovannino hervor. Hemmerle habe eher das Wort von Jesus verkörpert: „Der Erste unter euch soll der Diener aller sein.“ 2 – „Er konnte sehr gut zuhören und traf sofort ins Herz“, meint Anna Maria Manunta, die vier Jahre alt war, als sie bei ihrer Großmutter auf Hemmerle und Hagemann traf. „Jedes Jahr, wenn sie kamen, haben wir uns gefreut. Oma hat sie aufgenommen wie eigene Kinder.“

In den Gassen von Alghero

Eine junge Frau ist froh, dass Wilfried Hagemann nach Hemmerles Tod den Kontakt nach Alghero aufrecht hielt: „Er hat unseren Kindern viel von Klaus vermittelt: in welcher Haltung er seine Krebserkrankung gelebt und sich auf den Tod vorbereitet hat. So ist die Freundschaft lebendig geblieben.“
Geistliche Tiefe und Scharfsinn seien bei Hemmerle einhergegangen mit fast kindlicher Freude, so Altbischof Giovanni Dettori: „Er konnte lachen und zum Lachen bringen. Auch über sich selbst, seine Fehler im Italienischen.“ Klaus habe mit großer Einfachheit gesprochen. „Oft reichte ein Satz von ihm, den ich behielt, um ihn in Leben umzusetzen. Er ist nicht nur einer von euch, weil er aus dem deutschsprachigen Raum kommt. Erlaubt uns, auch zu sagen: Klaus ist einer von uns.“
Clemens Behr

1 Johannes 14,6
2 vgl. Matthäus 23,11 u. Markus 10,43

Urlaub in Alghero 1971 – Foto: (c) Wilfried Hagemann

Klaus Hemmerle
lernte 1958 auf einem Sommertreffen in den Dolomiten die Fokolar-Bewegung kennen. In deren Spiritualität und gemeinschaftlichem Leben fand er eine Verankerung. Er pflegte engen Kontakt zur Gründerin Chiara Lubich, die in ihm einen Mitbegründer sah. Denn auf seinen Anstoß hin entstand die Scuola Abbà, ein interdisziplinäres theologisches Studienzentrum der Bewegung. Hemmerle brachte zudem in enger Zusammenarbeit mit Lubich eine internationale Weggemeinschaft von Bischöfen verschiedener Kirchen auf den Weg, die sich an der Spiritualität der Einheit orientieren.

www.klaus-hemmerle.de
DVDs und Bücher von und über Hemmerle u.a. bei neuestadt.com

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2019)
Ihre Meinung interessiert uns, schreiben Sie uns! Anschrift und E-Mail finden Sie unter Kontakt