4. Dezember 2020

Aus eigenem Antrieb

Von nst5

Samuel Helm ist junger Lehrer. Er möchte, dass die Schülerinnen und Schüler gerne kommen, und ist überzeugt: Das geht nur, wenn es klare Regeln gibt.

Grenzen setzen fällt mir nicht sonderlich schwer. Kinder und Jugendliche brauchen Grenzen – erst recht in einer Gruppe. So lernen sie, sich in einem Rahmen zu bewegen, können aber auch Grenzen austesten. Wo es keine Grenzen gibt, kann man sie auch nicht austesten. Ohne Grenzen gibt es keinen geordneten Unterricht. Schülerinnen und Schüler wollen lernen, sie wollen stolz sein können auf das, was sie erreicht haben.
Viel schwieriger ist es, dafür zu sorgen, dass Grenzen beachtet werden; zu erkennen, wo sie übertreten werden, und dann fair zu reagieren. Es passiert schnell, sich auf einige einzuschießen, die häufiger mal über die Stränge schlagen, und andere zu übersehen.
Mir geht es um einen respektvollen Umgang zwischen Schülern und Lehrern, aber auch zwischen den Schülern; Wertschätzung gegenüber Gegenständen, wie etwa den Sportgeräten und nicht zuletzt um Wertschätzung gegenüber dem Unterricht selbst. Unterrichten heißt, etwas beizubringen; im Sportunterricht sind das zum Beispiel Bewegungsabläufe. Mein Hauptanliegen ist aber, den Schülern Freude an der Bewegung zu vermitteln, die auch dann noch anhält, wenn die Schule vorbei ist.
Seit diesem Schuljahr unterrichte ich auch Deutsch in einer Klasse der Mittelstufe. Bereits in der dritten Stunde mit ihnen war es so unruhig, dass wir zu gar nichts kamen. Danach war ich total fertig und fragte mich, ob ich mir nicht besser einen anderen Beruf suche. Am Tag darauf hielt die Klassenlehrerin ihnen eine Standpauke, was dazu führte, dass die nächste Stunde völlig anders war. Die Schülerinnen und Schüler arbeiteten gut mit und ermahnten einander: „Seid leise, sonst gibt es wieder Ärger!“ Das war ein komisches Gefühl. Die Klasse war diszipliniert, aber aus Angst. Das ist nicht das, wohin ich will. Die Schüler sollen gerne kommen, nicht aus Angst und trotzdem respektvoll sein. Aber kann es sein, dass eine Standpauke als Übergang nötig ist? In der Stunde danach haben sie erlebt, dass guter Unterricht möglich ist und die Stunde genossen. Vielleicht werden sie nach und nach aus eigenem Antrieb mitmachen. Ich werde es sehen.
In meiner Freizeit habe ich einige Jahre lang Jugendgruppen der Fokolar-Bewegung begleitet. Da habe ich erlebt, dass Zuwendung und Liebe fast immer eins zu eins zurückkommen. Wenn ich ein Kind mag, kann ich davon ausgehen, dass es mich auch mag. Ich hatte angeregt, dass wir uns die „Goldene Regel“ zur Grundlage machen: Was du von anderen erwartest, das tue auch für sie. Die Burschen haben das konsequent gelebt, anfangs wohl auch, weil sie mir gefallen wollten; dann aber haben sie bemerkt, dass es ihnen selbst und als Gruppe voll guttut, und so haben sie es verinnerlicht.
Eine solche Dynamik wünsche ich mir auch in der Schule. Hier reicht aber oft die Zeit nicht aus. In zwei Stunden Sportunterricht pro Woche kann nicht so viel wachsen wie bei gemeinsam verbrachten Wochenenden. Deshalb bin ich gerne dabei, wenn eine Klasse auf einen Skikurs fährt oder eine Projektwoche macht. Da können Beziehungen entstehen. Denn am Ende beruht alles immer auf Beziehung.
Samuel Helm

Foto: privat

Samuel Helm
27, unterrichtet seit gut zwei Jahren an der Freien Waldorf-Schule in Graz. Er hat Umweltpädagogik studiert und macht gerade einen Master in Waldorf-Pädagogik. Über viele Jahre hinweg hat er Jugendgruppen der Fokolar-Bewegung begleitet. Seit drei Jahren ist er Kursleiter in einem dreiwöchigen Sommersport-Camp mit 100 Kindern.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November/Dezember 2020)
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