4. August 2021

Beständiger Balanceakt

Von nst5

„In sich ruhen“ meint nicht Lethargie und Langeweile, sondern Souveränität und innere Freiheit.

Oberflächlich betrachtet war wohl schon lange keine Zeit mehr so ruhig wie die vergangenen 16 Monate. Mehr als sonst auf sich selbst und auf enge Aktionsräume begrenzt zu sein, hat für viele aber auch ganz neue Formen von Stress mit sich gebracht: Homeschooling, Homeoffice, Existenzängste, Sorgen um Verwandte, Freunde, Nachbarn, die Herausforderung, „nur auf Sicht“ planen und agieren zu können.
Auch in unserer Hausgemeinschaft waren wir coronabedingt im letzten Dezember gut drei Wochen in Quarantäne. Von einem Moment auf den anderen waren wir aus den aufgrund der Pandemie ohnehin schon stark eingegrenzten Abläufen und Beziehungsgeflechten herausgeschnitten. Darauf reagierte jede von uns anders. Von einem jedoch konnten wir alle berichten: Im Lauf der Zeit hatten wir gegen eine mehr oder weniger starke innere Unruhe anzukämpfen.
Nun ist Unruhe nicht zwingend negativ. Es gibt Situationen im Leben, die uns fast unweigerlich nervös machen: bedeutende Begegnungen, Prüfungssituationen, Vorstellungsgespräche und vieles mehr. Das unangenehm kribbelige Gefühl mag zwar kaum einer, aber meist hilft es, unsere Aufmerksamkeit zu schärfen, ganz da zu sein. Und wenn der Anlass vorbei ist, legt sich die Unruhe meist wieder.
Manchmal ist der Grund für innere Unruhe oder Anspannung nicht auf den ersten Blick auszumachen. Dann lohnt sich ein genaueres Hinschauen und Hinhören. Manchmal ist etwas ganz unbewusst ins Ungleichgewicht gekommen. Oder es melden sich Dinge, Aspekte, Erfahrungen unseres Lebens zu Wort, denen wir bisher (zu) wenig Raum gegeben haben. Unruhe kann so zum Antrieb dafür werden, notwendige Änderungen anzugehen.
Bedenklich ist Unruhe hingegen, wenn sie zum Dauerzustand wird oder dazu führt, dass wir uns einseitig von Emotionen leiten lassen und die Kontrolle über unsere Reaktionen verlieren. Dauerhaft starke Belastung oder gar Überforderung kann gesundheitliche Konsequenzen haben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit aber führt sie bei den meisten von uns zu Unzufriedenheit, die sich auch nach außen zeigt und auf Dauer unsere Beziehungen belasten oder stören kann.

Illustration: (c) DmitryMo (iStock)

Mich beeindrucken Menschen, die auch unter höchsten Belastungen kaum aus der Ruhe zu bringen sind. Sie wirken mit sich und dem Leben im Reinen. Oft empfinde ich mich als von Terminen, Umständen und manchmal auch von anderen „Getriebene“. Das Leben aktiv aus einer inneren Verwurzelung zu gestalten, ist wohl für die meisten Menschen erstrebenswert.
„In sich ruhen“ meint dabei sicher nicht, sich in die eigenen vier Wände zurückzuziehen. Es hat auch wenig mit Lethargie und Langeweile zu tun, aber sehr viel mit Souveränität und innerer Freiheit. Der französische Philosoph Blaise Pascal schrieb: „Das ganze Unglück des Menschen rührt daher, dass er nicht in der Lage ist, ruhig in seinem Zimmer zu sitzen.“ Der Mensch, so seine Erkenntnis, sucht sein Glück in rastloser Beschäftigung aus Angst davor, sich mit Tod, Elend und Unwissenheit auseinanderzusetzen. Er meint, nur durch Zerstreuung glücklich zu werden. Sobald er ruhig in einem Zimmer sitzt, ahnt er, dass dieses Glück nur Fassade ist. Und stürzt sich erneut in rastlose Beschäftigung. Erst wenn er sich seiner Lage – Begrenztheit und Endlichkeit – bewusst wird, erlangt der Mensch Blaise Pascal zufolge Würde. Verankert „im eigenen Inneren leben“, immer wieder Nähe zu sich selbst und seinen geistlichen und mentalen Innenräumen suchen und finden, das braucht Zeit und Raum. In unserer geschäftigen Zeit erfordert es oft eine bewusste Entscheidung, sich diese Momente und Phasen des Rückzugs zu schaffen. Zu sehr sind wir Kinder einer Kultur, in der leisten, tun und aktiv sein das Maß der Dinge werden. Dass erst wohlgesetzte Pausen ein gutes Musikstück und seinen Rhythmus ausmachen, vergessen wir allzu leicht.
Da verwundert es auch nur bedingt, dass der eine oder die andere sogar gegen Skrupel ankämpfen muss, wenn er oder sie sich Auszeiten einräumt. Auch Christen sind davon nicht ausgenommen und kämpfen manches Mal gegen ein latent schlechtes Gewissen an: Sie haben den Wunsch, von sich weg auf andere zu schauen, mit und für andere zu leben, das Eigene zurückzustellen, um anderen Raum zu geben. Sich selbst Zeiten zu gönnen, in denen sie sich herausnehmen, erscheint manchen da egoistisch oder als Fluchtversuch aus der Welt.
Selbst merke ich: Mich an das eigene Innere rückbinden, Stille suchen und aushalten birgt immer neu die Chance einer Begegnung mit Gott, der Quelle meines Lebens. Solche Momente sind kostbar, ein Geschenk. Aber sie sind kein Selbstzweck. Sie erst befähigen mich zur Nähe mit den anderen, wecken neue Sehnsucht nach Begegnung und helfen mir, den Zauber des Alltäglichen und das Besondere des Lebens wahrnehmen und schätzen zu können: hörend, sehend, staunend durchs Leben zu gehen, Gebende und Empfangende zu werden und zu bleiben.
Ich meine, die Sehnsucht, in sich zu ruhen, hat viel mit der nach einem ausgewogenen, ganzheitlichen Leben zu tun, wo alle Ausdrucksformen unseres Seins ihren Platz haben – die Arbeit, das Leben für andere, Stille und Tiefgang, Gebet, Sport, Gesundheit und Natur, Harmonie und Kunst, Weisheit und Studium, das Leben in Gemeinschaft. Einseitigkeit bringt auf Dauer alles aus dem Gleichgewicht. So ist es auch mit den beiden scheinbaren Gegensätzen: „im Innern“ und „nach draußen“ leben. Sie gehören zusammen. Eines ist ohne das andere nicht denkbar und auf Dauer auch nicht lebbar. Vielleicht ist unser Leben unter diesem Gesichtspunkt am besten als beständiger Balanceakt zu beschreiben – der mit wunderschönen Aus- und Einblicken belohnt wird. Die folgenden Seiten geben Hinweise und Anregungen, sich ein wenig aus dem Alltäglichen herauszuziehen und Ruhe zu finden. Hoffentlich bieten Ihnen die Sommerwochen Gelegenheiten dazu.
Gabi Ballweg

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2021)
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