3. Februar 2022

Ganz mit sich selbst sein

Von nst5

Individualität wahren und dabei Gemeinschaft leben:

In Lebensformen, die beides ermöglichen, sieht der Zukunftsforscher Matthias Horx eine Gegenbewegung zur Einsamkeit.

Herr Horx, liegt es an der Pandemie, dass Einsamkeit immer öfter Thema ist?
Corona hat die bereits vorhandene Einsamkeit aufgedeckt. Einerseits haben durch den Lockdown viele sogar zu mehr Gemeinschaft gefunden, aber diejenigen, die vereinsamt waren, haben das noch extremer erfahren. Da gerieten Menschen in existenzielle Not. Und das fiel auf.
Einsamkeit ist ein vielschichtiges Thema. Sie ist ein Mangel an Verbindungen, Vertrauen und Zugehörigkeit. In unserer Zeit gibt es so etwas wie eine „mediale Disconnection“, eine unterbrochene Verbindung: Gerade weil unendlich viele Bilder und Informationen auf uns einströmen, verlieren wir oft die lebendige Verbindung zu anderen Menschen oder auch zu überzeitlichen Dingen. Früher haben die Menschen diese vielleicht noch zu Gott halten können oder zu anderen mystischen Dimensionen. Dieser Weg ist den meisten heute versperrt. Damit sind wir mehr auf unsere sozialen Bindungen angewiesen. Wenn diese in die Brüche gehen, kommt es schnell zur Vereinsamung.

Leben wir denn im Zeitalter der Einsamkeit?
Diese Einschätzung teile ich nicht. Sie entsteht oft aus dem Nostalgie-Reflex: „Früher war alles besser“. Dabei erinnern wir uns nur an die Zeiten, in denen wir uns selbst geborgen fühlten. Auch früher gab es oft extreme Einsamkeit, etwa auf dem Land, wo Menschen in „Einsiedlerhöfen“ lebten. Da dürfen wir uns nichts vormachen.
Einsamkeit hat unterschiedliche Ausformungen. In unserer säkularisierten, individualisierten und digitalisierten Welt brauchen wir andere kommunikative Fähigkeiten als die Menschen früher, um nicht zu vereinsamen.

Sind wir einfach nicht gut genug auf die Anforderungen vorbereitet und deshalb einsam?
Menschen sind Gruppen-, Familien-, Stammeswesen. So sind wir durch die Evolution geprägt. Anders hätten Menschen nicht überleben können. Sie waren gezwungen, sich zusammenzuschließen, Netzwerke zu bilden.
Heute spielt das Ich eine andere Rolle als etwa in der Klassengesellschaft. Deshalb braucht es „Selbsttechniken“, die Fähigkeit, sich selbst, seine Gefühle zu verstehen und zu vermitteln. Gerade, wenn man Individualist ist, muss man auch ein guter Freund, Kumpel, Mit-Mensch sein. Viele ziehen sich jedoch in ein narzisstisches Schneckenhaus zurück, das aber auf Dauer nicht schützt.
Dort, wo moderne auf alte, tradierte Lebensformen stoßen, fallen Menschen häufig aus Netzwerken heraus. Damit erklärt sich etwa die Vereinsamung von Frauen im Alter. Sie sind noch durch ein Familiensystem geprägt, das zu Beginn der industriellen Revolution entstanden ist. Wenn ihr Partner stirbt, bleibt nichts mehr übrig, weil Freundschaften und Bindungen zu anderen nur über den Ehemann gepflegt wurden.

Auch Jugendliche klagen häufig über Einsamkeit. Obwohl sie digital sehr vernetzt sind.
Wir leben in einer Aufmerksamkeits-Ökonomie, in der Bindungen und Beziehung zunehmend durch Schein-Aufmerksamkeiten ersetzt werden. In der digitalen Welt gewinnen diejenigen die Aufmerksamkeit, die sich am attraktivsten oder am lautesten darstellen. Die am besten „posten“ können. Es geschieht alles, um wahrgenommen und gelikt zu werden. Damit das immer neu funktioniert, muss sich die Selbstdarstellung immer neu übertreffen, manchmal bis zur skurrilen Entfremdung von sich selbst. Beziehungen im und über das Netz sind deshalb stets unsicher, brüchig. Man kann sehr berühmt und „gelikt“ werden, im nächsten Moment aber einen riesigen Shitstorm erleben. Das Netz löst keine Beziehungsprobleme, sondern schafft lediglich Verbindungen, die oft sehr oberflächlich bleiben und nicht in die Tiefe gehen. Aus lauter Sucht nach Anerkennung verliert man sich selbst in Eitelkeiten, in Aufmerksamkeits-Sucht. Deshalb ist es wichtig, zwischen Einsamkeit und Alleinsein zu unterscheiden.

Und worin besteht der Unterschied?
Einsamkeit entsteht immer auch aus der Unfähigkeit, „all-ein“, also ganz mit sich selbst sein zu können. Das aber ist die Bedingung für Beziehungen. Man braucht eine gewisse innere Autonomie für Freund- und Partnerschaften. Wer beständig auf äußere Impulse angewiesen ist, gerät in eine Form von Abhängigkeit. Menschen, die ein gutes, gesundes soziales Netzwerk pflegen, kommen auch ganz gut mit sich selbst zurecht. Sonst klammert man sich an andere; das ist dann wie ein Pfropfen auf der inneren Einsamkeit.
Wenn wir den Kontakt zu uns selbst verlieren, wird das Leben schwer. Die Reaktionen darauf reichen von Rückzug, Verbitterung bis zu Hass und Aggression. Wer anfällig ist für Verschwörungstheorien, hat oft Vereinsamung, Kränkungsgefühle und Verletzungserfahrungen erlebt. Das projizieren manche auf den Staat und die politischen Verhältnisse und werden anfällig für extreme Positionen. Das lässt sich nicht mit einem staatlichen Programm beenden, sondern es erfordert die Heilungskräfte des Gesellschaftlichen.

Wie meinen Sie das?
In jeder Epoche gab es zerstörerische Einflüsse auf bestehende Formen des Gemeinschaftslebens. Die Industrialisierung hat die Dorfstrukturen zerstört und die zunehmende Mobilität Familien auseinandergerissen. Aber es gab dann immer auch neue Sozialformen, die sich spontan entwickelten. Ich zum Beispiel habe 15 Jahre meines Lebens in Wohngemeinschaften gelebt; dort haben wir neue „Freundschafts-Familien-Formen“ geübt. Gemeinschaftlich leben war in meiner Generation der Alternativ-Entwurf zur Kleinfamilie.
Heute entstehen wieder neue Gemeinschaftsformen wie Co-Gardening, Co-Working und andere. Gerade im Umwelt-Bereich finden Menschen heute neu zu Gemeinschaft. Dabei führt ein großes, idealistisches Thema – wie eben die Ökologie – oder auch eine Not, der man sich gemeinsam entgegenstellt – ein Engagement – Menschen zusammen. Das sind Vergesellschaftungsformen, die Heilungsversuche sind. Solche Konzepte wollen die Individualität wahren, sie aber mit einer flexiblen Gemeinschaft verbinden.
Demgegenüber stehen extreme Formen des Strebens nach Konsum, Genuss, Überfluss. Diese führen in die Einsamkeit, weil man versucht, damit Gefühlslücken zuzudecken.

Wie sehen Sie die Entwicklung in Zukunft?
Als Zukunftsforscher stellt sich mir immer die Frage, ob man eine gemeinsame Vision davon hat, wie man sich und die Welt verändern möchte. Das bringt uns dann wieder in Bezug zu unserer Umwelt und unseren Mitmenschen. Für die Gemeinsamkeit von Menschen braucht es eine gemeinsame Idee oder Vision. Das hängt mit Interessen zusammen, die man über seinen privaten Rahmen hinaus entwickelt. Grundsätzlich ist man nicht einsam, wenn man ein „Projekt“ hat, im sozialen oder ökologischen oder psychologischen Bereich. Ein Anliegen, das zum Engagement führt.

Oft leben wir sehr gegenwartsbezogen.
Das stimmt. Das liegt auch daran, dass sich vieles durch die Technik, die Medien und das Netz so rasend schnell entwickelt und abspielt, dass wir glauben, wir könnten alles im Jetzt und Hier verfügbar haben. Die Welt schnurrt zum Klick zusammen. Bernhard Pörksen, ein wunderbarer Beschreiber und Medientheoretiker, spricht vom Kult der Kurzfristigkeit. Mein unmittelbares Bedürfnis muss befriedigt werden, wenn nicht, bin ich super frustriert. Das ist die große Zeitkrankheit unserer Reiz-, Empörungs- und Aufmerksamkeitswelt.
Als Zukunftsforscher versuchen wir, diese zeitliche Perspektive zu weiten: Wenn wir uns etwa vorstellen, wie unsere Enkel und Urenkel, die nachfolgenden Generationen leben werden, öffnet das einen inneren Zeithorizont. Das nimmt auch Ängste, die oft aus dem Gefühl rühren, dass nach uns nichts mehr kommt und dass das, was hinter uns liegt, nutzlos war. Dass wir selbst nutzlos und verloren sind.

In Großbritannien gibt es ein Einsamkeitsministerium. Wird das auch in anderen Ländern kommen?
Wie gesagt hat die Pandemie die schon bestehende Einsamkeit aufgedeckt. Und man hat sich daraufhin dieses Phänomen genauer angeschaut und festgestellt, dass wir in den Wohlstandsnationen ein Potenzial von ungefähr 10 bis 15 Prozent wirklich vereinsamter Menschen haben. Ich weiß nicht, ob es dafür in allen Ländern ein eigenes Ministerium geben wird. Ich denke, dass die Frage in vielen Sozialministerien schon lange auf dem Schirm ist.
Das Schwierige ist, dass Einsamkeit so vielschichtige Fragen aufwirft: Was fördert oder verhindert negative Vereinsamung in unseren Städten? Wo und wie können soziale Strukturen gestärkt werden? Welche Institutionen können dabei welche Rolle spielen? Wie kriegt man lebendige Stadtteile hin, in denen die Menschen sich kennen, Nachbarschaften aktiv sind und es Vereinsleben gibt?
Vieles davon haben früher Gewerkschaften, Vereine, Parteien und Kirchen übernommen. Gerade die Kirchen haben oft eine wesentliche Rolle gespielt. Aber heute haben sie scheinbar nicht mehr den richtigen Zugang zu den Menschen, und man muss das neu besetzen.
Jede Krise, jedes Defizit erzeugt  eine Gegenbewegung. Wir haben immer schon solche Suchbewegungen in der Gesellschaft, wo sich aus sozialen Verlusten neue Bewegungen und Lebensweisen formten. Denn wir haben einen tiefen menschlichen Instinkt, der uns zueinander führt. Das wird auch diesmal so sein, in der Vereinsamungskrise vor den Bildschirmen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Gabi Ballweg

Fotos: Klaus Vyhnalek

Matthias Horx,
ist Zukunfts- und Trendforscher. 1998 hat er in Frankfurt am Main das „Zukunftsinstitut“ gegründet und zahlreiche Bücher und Studien zu sozialen, technologischen, ökonomischen und politischen Trends veröffentlicht. Dabei geht es ihm um „eine Futurologie, die nicht jeder Angst oder jedem Technik-Hype hinterherrennt, sondern den Bewusstseinswandel mit einbezieht“ und darum, „wie konstruktive Visionen Gesellschaft und Wirtschaft verändern können“. Horx lebt mit seiner Familie in Wien.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2022)
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