4. Mai 2022

Gewaltfreiheit wirkt – hat aber ihren Preis

Von nst5

Wegen des Kriegs gegen die Ukraine

wollen viele Staaten ihre Verteidigungsausgaben deutlich erhöhen. Der Innsbrucker Sozialethiker Wolfgang Palaver sieht das skeptisch: „Glauben wir wirklich, dass mehr Waffen auch mehr Sicherheit bringen?“

Der Krieg ist zurück in Europa. Bis vor wenigen Wochen hat das kaum jemand für möglich gehalten. Sie auch nicht?
Ja, auch ich habe mich getäuscht. Ich hatte nicht mit einem Krieg gegen die ganze Ukraine gerechnet – wenn überhaupt, dann mit kleinen militärischen Aktionen im Osten des Landes. Da lag ich falsch.
Allerdings hat sich wohl auch der russische Präsident Putin getäuscht.

Inwiefern?
Von Geheimdiensten abgefangene Dokumente zeigen – so die polnisch-amerikanische Journalistin und Historikerin Anne Applebaum –, dass Putin davon ausging, nach drei bis vier Tagen Kiew eingenommen zu haben, der Krieg also schnell zu Ende sei. Vermutlich hat er zwei Dinge unterschätzt: die klare und einheitliche Reaktion des Westens – anders als nach der Annexion der Krim 2014 – und den Willen der Ukrainer, ihr Land zu verteidigen.

Nun dauert der Krieg schon über einen Monat an. Viele sprechen von einer Zeitenwende. Stimmen Sie dem zu?
Ich bin etwas zurückhaltend mit großen Worten. In 20 oder 30 Jahren werden wir rückblickend beurteilen können, ob es sich bei dem, was wir gerade erleben, um eine Zeitenwende gehandelt hat.
Tatsächlich aber zeichnet sich in vielen Ländern – nicht zuletzt in Deutschland – ein grundlegender Wandel in der Sicherheitspolitik ab.

Sie sprechen von den großen Summen, die in die Bundeswehr fließen sollen?
Ja. Was Deutschland jetzt plant, bedeutet eine Abkehr von seiner Sicherheitspolitik der letzten 75 Jahre, in der das Land – als Konsequenz aus der Zeit des Nationalsozialismus – militärisch äußerst zurückhaltend war. Aber Deutschland ist nicht allein: Die österreichische Verteidigungsministerin hat angekündigt, das Land wolle seine Verteidigungsausgaben verdoppeln.

Liegt eine solche Reaktion nicht nahe angesichts der Tatsache, dass Krieg auch in Europa wieder eine Option zu sein scheint?
Grundsätzlich bin ich da skeptisch. Es mag sein, dass die eine oder andere Investition in die Ausrüstung der Soldatinnen und Soldaten, in Cyber-Sicherheit oder in Verteidigungswaffen sinnvoll und nötig ist. Aber schon jetzt ist das Militärbudget der NATO dreizehnmal so hoch wie das von Russland. Glauben wir wirklich, dass mehr Waffen auch mehr Sicherheit bringen?

Selbst bisherige Rüstungsgegner sprechen sich für höhere Militärbudgets aus.
Ich gebe zu: Sich angesichts eines Angriffskrieges gegen höhere Rüstungsausgaben auszusprechen, muss naiv wirken. Vielen Menschen macht der Krieg Angst. Und da beruhigt das Versprechen, das Militär zu stärken. Es ist eine emotional verständliche Reaktion auf eine konkrete Situation.
Aber ich finde es mindestens genauso naiv, nicht mit gleichem Engagement andere Wege zu fördern, die Krieg verhindern und Frieden sichern können.
Dafür sprechen mindestens drei Gründe:

  • Es gibt keinen gerechten Krieg.
  • Auch defensive Gewalt hat eine gefährliche Eigendynamik.
  • Gewaltfreie Methoden der Konfliktlösung haben sich bewährt.

Der Reihe nach!
Einverstanden. Beginnen wir mit dem „gerechten Krieg“. Ich stimme Papst Franziskus zu, der in seinem Schreiben „Fratelli tutti“ die Theorie des gerechten Krieges verwirft. Krieg ist kein moralisch erlaubtes Mittel der Politik mehr! Das weiß sogar Putin. Es ist doch auffällig, dass er nicht von Krieg spricht. Und bei den Vereinten Nationen haben nur fünf Länder das Handeln Russlands gutgeheißen. Wenn also Krieg moralisch niemals gerechtfertigt ist, dann muss die Menschheit viel mehr Energie dafür aufbringen, diesen Grundsatz auch durchsetzen zu können.

Aber ein Land muss sich verteidigen dürfen.
Das stimmt, und damit sind wir beim zweiten Punkt. Gandhi, der wohl bekannteste Verfechter und Zeuge der Gewaltfreiheit, schrieb 1939: Auch als gewaltfreier Mensch müsse man unterscheiden können, wer im Recht und wer im Unrecht sei. Man könne nicht moralisch neutral sein. Und es gelte, zwischen offensiver und defensiver Gewalt zu unterscheiden.
Doch Gandhi ergänzt: Auf Dauer verwischt der Unterschied zwischen offensiver und defensiver Gewalt. Es liegt in der Natur des Krieges und der Gewalt, schnell zu eskalieren. Mit der Zeit wird sich der Verteidiger wie der Aggressor verhalten.
Ich kann mir gut vorstellen, wie groß die Versuchung für das ukrainische Militär und die einzelnen Soldaten ist, sich zu rächen und dann vielleicht auch Kriegsverbrechen zu begehen.
Gandhi bestreitet also das Recht auf militärische Verteidigung nicht, spricht sich aber nachdrücklich dafür aus, dass mehr gewaltfreier Widerstand geleistet wird.

Was macht gewaltfreien Widerstand aus? Und hat er Erfolg?
Jede Gesellschaft muss beständig einüben, Konflikte gewaltfrei zu lösen. Dazu gehört, den Frieden im Inneren zu stärken: Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit, Meinungsfreiheit, Anerkennung der Vielfalt – ein Land, das diesen Prinzipien genügt, wird nicht so schnell in den Krieg ziehen.
Auch in autoritären Staaten hat ziviler Widerstand große Erfolge errungen. Erica Chenoweth und Maria Stephan haben in ihrer Studie “Why Civil Resistance Works” (Warum ziviler Widerstand wirkt) mehrere hundert Fälle von Widerstand in den letzten Jahrzehnten weltweit untersucht und festgestellt, dass gewaltfreier Widerstand doppelt so effektiv ist wie militärischer Kampf.
Selbst mitten im Krieg ist ziviler Widerstand nicht aussichtslos: Tausende Ukrainer protestieren in besetzten Städten gegen die russischen Truppen und entlarven so das russische Narrativ von der angeblichen Befreiung der Ukraine als Lüge. Die Moral der russischen Truppen wird so spürbar geschwächt.  

Und doch werden ziviler Widerstand und Pazifismus oft belächelt.
Ich erkläre mir das damit, dass wir häufig ein Bild von Pazifismus haben, der keinen Preis hat. Gewaltfreier Widerstand verlangt aber mindestens genauso viel Vorbereitung und Mut wie militärischer Kampf. Ansonsten kommt es zu einem „Pazifismus der Bequemlichkeit“: Ich halte mich heraus und lasse andere den Preis zahlen.
Die französische Mystikerin und Philosophin Simone Weil hat zwei Formen von Pazifismus unterschieden: Die eine begründe sich aus der Angst vor dem Sterben und die andere aus der Angst vor dem Töten.
Die Angst vor dem Sterben als Motiv für eine pazifistische Haltung ist weit verbreitet, aber moralisch bedenklich. Sie führt dazu, sich selbst zu retten auf Kosten der anderen. Ein Beispiel: Eine große Zahl von französischen Pazifisten hat nach der Eroberung Frankreichs durch Hitler mit den Nazis zusammengearbeitet.
Nicht töten zu wollen als Grund für den Pazifismus, verbunden mit der Bereitschaft, die Konsequenzen zu tragen, findet sich seltener. Ein Beispiel dafür ist Franz Jägerstätter, ein österreichischer Kriegsdienstverweigerer, der 1943 hingerichtet wurde, weil er nicht für die Nazis kämpfen wollte.

Österreich und die Schweiz sind neutral. Ist das ein Beitrag zu einer friedlicheren Welt?
Da sprechen Sie ein Thema an, das mich seit vielen Jahren beschäftigt.
Die Grundfrage ist doch: Ist ein Staat neutral, weil er einen Beitrag zu einer weniger militärisch geprägten Welt leisten will? Oder ist er neutral, um einen möglichst geringen Preis zahlen zu müssen und ungestört seine Geschäfte mit allen machen zu können? Da bin ich mir weder bei Österreich noch bei der Schweiz ganz sicher.
Es gibt historisch gute Gründe für die Neutralität dieser beiden Länder: Die Schweiz hat eine lange Tradition darin, und Österreich hat so zur Entspannung im Kalten Krieg beigetragen. In beiden Ländern wird sie bis heute von der übergroßen Mehrheit befürwortet.
Seit Österreich der Europäischen Union beigetreten ist, ist die Neutralität noch schwerer zu begründen. Wir erwarten im Konfliktfall ganz sicher Beistand. Was aber ist die Leistung von Österreich?

Zurück zur aktuellen Situation. Viele Menschen sind verunsichert und fühlen sich ohnmächtig. Was raten Sie ihnen?
Schon jetzt führt die Betroffenheit ja zu einer Hilfsbereitschaft, wie ich sie selten erlebt habe. Flüchtlinge zu unterstützen, ist ein Gebot der Menschlichkeit; es kann aber auch uns selbst helfen, mit Menschen aus der Ukraine in Kontakt zu kommen, Anteil zu nehmen an ihrem Leid und zugleich ihre Stärke zu erleben.
Um die Ohnmacht zu überwinden, erscheint mir jedoch von ganz besonderer Bedeutung, uns mit unserer Sterblichkeit auseinanderzusetzen.

Wie meinen Sie das?
Gewaltfreiheit bedingt, der eigenen Sterblichkeit ins Auge zu schauen und sie zu bejahen. Alle Weltreligionen setzen sich zentral mit dieser Frage auseinander. Ist meine religiöse Haltung von dieser Herausforderung geprägt? Kann ich einen gewissen Abstand zu meinen unmittelbaren Sicherheitsängsten gewinnen? Es ist so leicht gesagt und ich weiß nicht, wie weit ich selbst auf diesem Weg bin. Aber um diesen Weg müssen wir uns bemühen, sonst bleiben Gewalt und Gegengewalt die einzigen Lösungen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Peter Forst

Foto: privat
Illustration ganz oben: (c) Olga Ubirailo (iStock)

Wolfgang Palaver, geboren 1958 in Zell am Ziller, hat in Innsbruck Religionspädagogik, Germanistik und Politikwissenschaft studiert. Er ist Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck. Seit 2019 ist er auch Präsident der kirchlichen Friedensbewegung Pax Christi Österreich. Wolfgang Palaver ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2022)
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